De Ganni, D. /Freund, S. (Hrsgg.), Das Alte Testament in der Dichtung der Antike. Paraphrase, Exegese, Intertextualität und Figurenzeichnung. Palingenesia Bd. 136. Franz Steiner Verlag: Stuttgart 2023, 478 S. EUR 86,- (ISBN 978-3-515-12469-0).

Der hier zu besprechende Band enthält die Vorträge, die auf der internationalen Tagung „Das Alte Testament in der Dichtung der Antike“ vom 23. bis 25. 1. 2019 an der Bergischen Universität Wuppertal gehalten wurden. Seit den 1970er Jahren erwachte das Forschungsinteresse an der dichterischen Bearbeitung von biblischen Themen und Texten in Antike und Mittelalter. Zunächst wandten sich die Forscherinnen und Forscher verstärkt poetischen Texten zu, die das Neue Testament aufgriffen. Daher lag es nahe, offene Fragen zu behandeln, die das Alte Testament als poetisches Sujet bereithält. Wie ist das Verhältnis zwischen Dichtung und Exegese (Einführung, 9)? Welche Rolle spielen die ausgewählten biblischen Gestalten, Episoden und Texte bei den antiken Dichtern? „Welche lexikalischen und syntaktischen Einflüsse, welche Einzelelemente wie Vergleiche oder Epitheta, welche gedanklichen und argumentativen Strukturen aus dem Alten Testament finden sich in der christlichen Dichtung wieder?“ (Einführung, 9). Wie beeinflusst das Alte Testament „die Entwicklung einer christlichen Dichtersprache?“ (Einführung, 9).

Nach Aussagen der beiden Herausgeber, Donato De Gianni (Professor an der Universität Cagliari) und Stefan Freund (Professor an der Universität Wuppertal), ist die Anordnung der 25 Beiträge weitgehend chronologisch erfolgt (Einleitung, 10). In einigen Aufsätzen stehen alttestamentliche Gestalten im Vordergrund, während andere Beiträge biblische Motive im Blick haben; berücksichtigt werden auch Techniken typologischer Deutungen des Alten Testaments. Die Beiträge sind in verschiedenen Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch) verfasst, wie es bei internationalen Tagungen üblich ist. Jeder Beitrag beginnt mit einem Abstract, so dass sich die Leserinnen und Leser einen kurzen Überblick über den Inhalt verschaffen können. Am Ende gibt es jeweils eine Zusammenfassung, daneben ein Literaturverzeichnis. Fast alle Vortragenden haben originalsprachliche Textabschnitte (Griechisch bzw. Latein und eine Übersetzung) integriert, damit die Zuhörerinnen und Zuhörer bzw. Leserinnen und Leser die jeweiligen Analysen besser nachvollziehen können. An die Einführung (9-12) schließen sich die einzelnen Beiträge an (13-444), die durch ein Register (Bibelstellen, Eigennamen, Schlagworte, Stellen antiker Literatur, 445-478) verknüpft werden. Naturgemäß kann ich nicht auf alle Beiträge intensiv eingehen, ja nicht einmal alle Titel anführen, möchte daher einige Aufsätze kurz vorstellen, ohne die anderen dadurch abzuwerten.

Ich beginne mit dem Beitrag von Stefan Freund: Alttestamentliche Motive in der frühchristlichen lateinischen Hymnendichtung (27-45). Freund prüft vier Texte/Textgruppen, die als sehr bedeutende Zeugnisse der frühchristlichen Hymnendichtung in lateinischer Sprache angesehen werden: den Psalmus responsorius, die Hymnen des Hilarius von Poitiers, die Hymnen des Marius Victorinus und die Hymnen des Ambrosius (28). Die Durchsicht der Texte zeigt, dass die genannten Hymnendichter nur vereinzelt „das narrative Potential des Alten Testaments aufgegriffen“ haben (43). Im Falle des Hilarius analysiert Freund die zwei jambischen Senare, die dem ersten Hymnus vorangehen (Hil. hym. prooem. 1f., 32). Dabei wählt er vor allem die theologische Auswertung, berücksichtigt aber auch sprachliche Gegebenheiten. Hilarius gelingt es dadurch, dass er „die Psalmen Davids als Hymnen anspricht“, den König von Juda zum „πρῶτος εὑρετής der Gattung des – christlichen – Hymnus“ zu machen (32). Freund bezieht weitere Textstellen ein und kann konstatieren, dass Hilarius mehrfach in seinen theologischen Schriften Aussagen des römischen Dichters Lukrez berücksichtigt. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass solche Rückgriffe ambivalent sind: „Grundsätzlich und programmatisch sieht sich Hilarius als Fortsetzer der alttestamentlichen Psalmendichtung. Metrisch und sprachlich hingegen greift er, wenn auch in innovativer Weise, auf Vorgaben der paganen Dichtung zurück“ (37). Ambrosius indes geht freier mit den Stoffen und Motiven des Alten Testaments um. Er führt das weiter, was Hilarius begonnen hat und „als Programm vorgibt: Die Hymnen setzen die Psalmen fort“ (43).

Ein anderer richtungsweisender Beitrag stammt von Kurt Smolak: Übergänge: ein ,Reisegedicht‘. Paulinus von Nola, carm. 24 Hartel (=Carmina Varia pp. 573-605 Dolveck) (131-151). Bereits im Abschnitt: Vorbemerkung (132-136) macht Smolak darauf aufmerksam, dass Paulinus im 24. Gedicht zahlreiche Neuerungen präsentiert; das Gedicht, das aus 942 epodischen Jamben besteht, gilt als „das längste jambische Gedicht der antiken und spätantiken lateinischen Literatur, also eine quantitative Neuerung gegenüber der Tradition“ (132). In der Geschichte dieser Dichtungsform steht seit Archilochos der Spott im Vordergrund, während der Dichter aus Burdigala/Bordeaux das Epodenmaß „zum Lob des Verhaltens in der Vergangenheit“ verwendet (132). Eine weitere Neuerung besteht darin, dass der Inhalt dieses Jambengedichtes normalerweise in daktylischen Hexametern wiedergegeben wurde. Als vierte Neuerung präsentiert Smolak die Feststellung, dass hier ein persönlicher Brief vorliegt, „der an einen bestimmten, den Empfänger und den Adressaten betreffenden historischen Anlass anknüpft – anders etwa als der Lehrbrief De arte poetica des Horaz“ (132). Smolak erläutert die Technik typologischer Deutungen des Alten Testaments am Beispiel des ausgewählten Gedichtes; dazu liefert er sein Verständnis der Begriffe ‚Typus‘, ‚Typologie‘, ‚typologisch‘ usw. und schlägt eine „über den streng bibelexegetischen Gebrauch hinausgehenden“ Bedeutungserweiterung vor, ja er erwägt sogar den „Neologismus ‚Para-Typologie‘“ (136).

Stefan Weise untersucht, wie Nonnos in seiner Periphrase des Johannes-Textes die Epitheta alttestamentlicher Figuren einsetzt (Alter Wein in neuen Schläuchen? Epitheta alttestamentlicher Figuren in Nonnos‘ Paraphrase des Johannesevangeliums, 269-283). Diese schmückenden Adjektive sind sehr auffällige formale Konstituenten epischer Dichtung, neben der Verwendung des Hexameters. Im Gegensatz zu Homer tendiert Nonnos in seinen Dionysiaka (Διονυσιακά), dem letzten bedeutenden Epos der Antike, dazu, Epitheta für eine Person nur einmal zu verwenden. Allerdings fällt auf, dass die Personen wie Abraham, David und Salomon durch das Epitheton ἀρχέγονος (271, 276 und 280) verbunden werden. Moses etwa wird ἀρχιγένεθλος genannt (271). Die alttestamentlichen Erzväter werden mit Komposita vorgestellt, die mit ἀρχι- oder πρωτο- beginnen, um ihre Bedeutung herauszustellen. David, dessen Name in der Periphrase viermal belegt ist, erhält die Epitheta: ἀριστογόνος, ἀρχέγονος und λυροκτύπος (276). Adam schließlich, der nur einmal erwähnt wird, erhält das Adjektiv πρωτόγονος (280). Den verwendeten Epitheta lassen sich neben ornativen und narrativen auch exegetische Funktionen zuordnen (281). Weise beendet seinen Beitrag mit folgender Bemerkung: „Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Nonnos bei der Wahl seiner Epitheta für alttestamentliche Personen sorgfältig sowohl inter- als auch intratextuelle Funktionalisierungen erkennen lässt und so ein geschicktes Verweissystem schafft, das seinem poetischen Konzept der ποικαλία entgegenkommt“ (282).

Sylvie Labarre analysiert das Werk des Dracontius De laudibus Dei, Buch III und wählt drei Episoden aus dem Alten Testament aus: das Opfer Abrahams, die Jünglinge im Feuerofen und Daniel in der Löwengrube (Héros de l’Ancien Testament chez Dracontius. Exempla, exégèse et écriture épique, 285-298). Sie arbeitet dabei heraus, dass Dracontius eher Dichter als Exeget ist. Er greift auf die Metamorphosen Ovids zurück. Als Jurist versteht es der Dichter, seine beruflich erworbenen Fähigkeiten zu zeigen und geeignete Argumente zu liefern. In seiner Situation als Gefangener erhält er die Möglichkeit, durch die Barmherzigkeit Gottes schließlich gerettet zu werden, wenn nicht der Herrscher selbst eingreift (Gunthamund, Vandalenkönig von 484 bis 496 n. Chr.). Das Opfer, das Abraham Gott anbietet, nämlich seinen Sohn Isaak, soll belegen, dass Gott nicht den Tod Unschuldiger anstrebt. Labarre untersucht die entscheidenden Stellen des Alten Testaments und weist nach, dass Dracontius zwar keine originelle Interpretation vorlegt, aber in einzigartiger Weise die Episode des Opfers präsentiert, sei es durch den Ton der Auseinandersetzung, sei es durch die juristischen Formulierungen. Bemerkenswert ist auch die Verwendung einiger Stilmittel wie Oxymora, Antithesen und Paradoxien. Den epischen Charakter des Textes können zum Beispiel Oxymora wie pius immitis (V. 106), bezogen auf Abraham und frigidus ignis […] gelidis […] flammis (V. 173), unterstreichen. Eine gewisse Synthese von Antike und Christentum ist in der Verwendung antiker Mythen zu erkennen. Nach Labarre lässt Dracontius die Antike in einen Dialog mit dem Christentum treten und greift dabei auf drei Mythen zurück: „Dracontius fait dialoguer antiquité et christianisme en ayant recours à trois mythes antiques qui servent de repoussoir: Saturne (Saturnus fulcifer), Hercule (Alcides clarissimus), Diane (crudelis virgo)“ (294).

Bevor Domenico Accorinti die Bücher Samuel vorstellt (La figura di Samuele nella poesia cristiana antica, 391-414), geht er auf das Verhältnis des amerikanischen Literaten William Faulkner zu den biblischen Texten ein; sein Meisterwerk Absalom, Absalom! wurde 1936 publiziert. Der Nobelpreisträger von 1949 verweist bei einer Begegnung mit Studentinnen und Studenten an der Universität von Virginia 1957 darauf, dass er gerne das Alte Testament lese, weil es voll von Menschen sei, nicht von Ideen – wie das Neue Testament (392). Nachdem Accorinti kurz die Bücher Samuel behandelt, befasst er sich mit mehreren christlichen antiken Dichtern, wie sie die Figur Samuels in ihre Werke integriert haben. Zunächst wendet er sich dem griechischen Kirchenvater Gregor von Nazianz zu, dann Werken von Paulinus von Nola, Romanus Melodos und Michael Psellus. Einige knappe Bemerkungen zur Bedeutung der Gedichte und Epigramme von Gregor von Nazianz seien gestattet. Gegenstand der Studie ist, die Spuren in der sehr komplizierten literarischen Figur, hier also Samuels, nachzuzeichnen. Accorinti analysiert das Gedicht Περὶ τῶν καθ‘ ἑαυτόν (2,1,1) des Bischofs von Sasima, in dem dieser Bezüge zwischen seiner Familie und der Samuels herstellt; Gregor vergleicht seine Mutter Nonna mit Anna, der Mutter Samuels. Im Gedicht wird der Sohn, also Gregor, als neuer Samuel bezeichnet: νέος Σαμουήλ (V. 431). Beide Frauen haben im hohen Alter ein Kind geboren. Damit stellt Gregor eine Chronologie her, die mit Anna beginnt, die ein Kind als Jungfrau zur Welt bringt, genauso wie Elisabeth und Maria (V. 427-428). In einem anderen Gedicht, nämlich Eἰς τὸν ἑαυτοῦ βίον (2,1,11), geht es auch um die Geburt Gregors; hier ist seine Mutter eine Art Ebenbild von Sara, die im Alter von 90 Jahren ihren Sohn Isaak gebar. Auch in diesem Gedicht, das beinahe 1950 iambische Verse umfasst, beschreibt sich Gregor als neuer Samuel (V. 91).

Zum Schluss möchte ich auf einige Aspekte des letzten Beitrages von Thomas Gärtner eingehen (Die Verführungsrede der Schlange in den verschiedenen Genesisversifikationen, 415-444). Die Literatur zur Verführungsrede der Schlange (Gen 3, 1-6) ist sehr umfangreich. Umfassend hatte sich etwa Siegmar Döpp in seiner Publikation mit der Thematik befasst, vor allem auch mit der Rezeption beim spätantiken Epiker Alcimus Avitus (Eva und die Schlange. Die Sündenfallschilderung des Epikers Avitus im Rahmen der bibelexegetischen Tradition, Kartoffeldruck-Verlag Speyer 2009). Gärtner befasst sich insbesondere mit zwei Fragen: „1. Ob und in welcher Form sich die Schlange speziell an Eva als Frau wendet und wie diese die Erbsünde an ihren Mann weiterträgt, und 2. wie die räumlichen Verhältnisse zwischen Schlange, Adam und Eva imaginiert werden“ (416). Gärtner prüft zunächst einige spätantike Bibelepiker, bevor er sich der von Alcimus Avitus gewählten Darstellung zuwendet. Da der Vulgata-Text Freiräume zulässt, haben die Epiker die Möglichkeit ausgeschöpft, verschiedene Deutungen zu wählen. Maßgebend für alle späteren Bearbeiter der Bibelstelle ist Alcimus Avitus (geb. um 460, gest. 518). Dieser Bibelepiker hat „als erster die theologische Ausdeutung, dass in der Schlange der Teufel zu Eva redet, in die Dichtung eingeführt“ (417). Hierbei greift Gärtner auf Analysen von Siegmar Döpp zurück. Gärtner gelangt aufgrund genauer Untersuchungen der ausgewählten Texte zum Resultat, dass das Schuldverständnis zwischen Adam, Eva und der Schlange sehr unterschiedlich konzipiert wurde. Bei Melchior Durrius steht nach Gärtner ein „religiös-kontemplativer Adam“ einer „initiativen Sünderin Eva“ gegenüber (426), während bei Johannes Opsopaeus Adam und Eva schlichtweg als Opfer der Rede des Teufels gelten können (426); John Milton hingegen entlastet in Paradise Lost Eva dadurch, dass er der Schlange Raffinesse unterstellt, Adam seinerseits stehe loyal auf Seiten seiner Frau und sei daher ebenfalls schuldlos (426).

Die Untersuchungen bieten ein breites Spektrum; sie nehmen Bezug auf alttestamentliche Gestalten wie Elias (bei Commodian), Moses (bei Prudentius), Samuel (bei Gregor von Nazianz, Paulinus von Nola, Romanos Melodos und Michael Psellos). Forscherinnen und Forscher analysieren die Verwendung bestimmter Motive wie das Opfer Abrahams, die Jünglinge im Feuerofen und Daniel in der Löwengrube bei Dracontius und Jakobs Kampf mit Gott bei Prudentius. Des Weiteren gibt es Beiträge, die die Technik typologischer Interpretation des Alten Testaments beleuchten, wie bei Sedulius, Avitus, Arator und Romanos Melodos. Auch das Werk des Heptateuchdichters wird in verschiedenen Aufsätzen untersucht. Abschließend lässt sich konstatieren, dass die Beiträge insgesamt einen Erkenntnisfortschritt bewirken, da sie das Verständnis dafür erleichtern helfen, wie die christlichen Dichter Stoffe, Themen und Figuren des Alten Testaments in ihren Werken verarbeitet haben.

Dietmar Schmitz