Neuerscheinung des Monats
Januar 2025
- Details
- Hauptkategorie: Veröffentlichungen
Eleanor Dickey, Latin Loanwords in Ancient Greek. A Lexicon and Analysis, Cambridge (Cambridge University Press) 2023, ISBN 978-1-108-84100-9, ca. 190,00 €
Die griechisch-römische Antike ist zweisprachig. Und nicht nur die Literaturen regen einander an, auch die Sprachen tun es. Dass eine solche Anregung auch vom Lateinischen ausgehen und auf das Griechische wirken kann, dafür legt das hier vorzustellende Lexikon beredtes Zeugnis ab: Eleanor Dickey stellt darin 820 belegbare lateinische Lehnwörter im Griechischen und 1.002 mögliche Lehnwörter zusammen. Dazu kommen, den Regeln wissenschaftlicher Exaktheit folgend, über 1.000 Wörter, die entweder zwar lateinischen Ursprungs, aber keine Lehnwörter sind, oder nachantik oder nicht auf das Lateinische zurückzuführen oder gar nicht existent (sondern auf falsche Lesarten, die in ältere Lexika Eingang gefunden haben, zurückgehend) sind. In der Einleitung legt die Verfasserin die Hauptschwierigkeit dar – nämlich zu unterscheiden, wo noch Phänomene des Code Switching (also das zitierende Hinübergleiten in die andere Sprache) vorliegen und wo man bereits von lateinischen Lehnwörtern im Griechischen sprechen kann: Häufigkeit erscheint dabei als wichtigstes Kriterium, daneben sind es Phänomene morphologischer Angleichung. Der umfangreiche Lexikonteil (23–502) lädt zu einer Entdeckungsreise in Sprache und Kultur des antiken Mittelmeerraums ein: So findet das lateinische Adjektiv bonus seinen Weg ins Griechische (zu βόνος oder βῶνος) und bezeichnet die ‚Handelsgüter‘ (βόνα) in byzantinischen Texten, in denen übrigens die ‚Einführung ins römische Recht‘ ἰνστιτοῦτα heißt. Galen erwähnt ein Schmerzmittel namens ἰουκούνδα (natürlich von iucundus), und Dinge oder Personen, die mit der Getreideversorgung zu tun haben, können φρουμεντάριος (< frumentarius) heißen. Die lateinischen Monatsnamen wie Ἰανουάριος, Φεβρουάριος usw. sind ebenso bis ins moderne Griechisch lebendig geblieben wie die Bezeichnung der ‚Germanen‘ als Γερμανοί. Das neugriechische Wort für ‚Zisterne‘, nämlich στέρνα, geht über κιστέρνα auf das lateinische cisterna zurück, das Adjektiv ‚gelb‘, κίτρινος, auf citrum (‚Zitronenbaum‘) oder citrium (‚Zitrone‘) und das Wort für ‚Windel‘, φασκιά, über φασκία, auf fascia (‚Binde‘). Und natürlich steht hinter der griechischen Taverne (ταβέρνα) die lateinische taberna. Der lateinische circus gelangt, noch mit k-Aussprache, als κίρκος ins antike Griechisch und, bereits mit z-Aussprache, als τσίρκο ins moderne. Und der noch immer verwendete Ausdruck φούρνος für die Bäckerei lässt sich auf eine in die Antike zurückreichende Übernahme des lateinischen Wortes für Ofen, furnus, zurückführen. – Der Lexikonteil wird dadurch geradezu von vorne bis hinten lesbar, dass Eleanor Dickey jedes Lemma kategorisiert insbesondere in „Direct loan“ (mit Zeitangabe – das sind die interessantesten Beispiel, aus dieser Gruppe stammen auch die meisten der aufgeführten Beispiele), „rare“ (nur vereinzelt belegte Lehnwörter) und „foreign“ (Wörter, die, wenn auch transkribiert, Fremdausdrücke bleiben und nicht ins Griechische eingehen – etwa φάμουλος für famulus, ‚Diener‘). Dazu kommen noch die Einteilungen in „not Latin“, „not ancient“ und „not existent“ für Wörter, denen in antiken Lexika oder in der Forschung ein lateinischer Ursprung attestiert wird, der aber einer Prüfung nicht standhält. Der Anhang (503–667) nimmt systematische Aspekte des erfassten Sprachkontakts in den Blick: Wie werden lateinischen Lehnwörter im Griechischen geschrieben, gebeugt und akzentuiert? Wie funktioniert die Übernahme von Suffixen? Wann bleiben lateinische Fremdwörter im Griechischen erhalten? Der chronologische Überblick lässt einen Höhepunkt der Übernahmen, die mit Polybius im zweiten Jahrhundert vor Christus fassbar werden, im zweiten und dritten Jahrhundert nach Christus erkennen. Danach verschwinden Wörter auch wieder, einige leben, wie oben schon angedeutet, im Neugriechischen fort (dazu 589–593). Schließlich erfährt man noch, dass lateinische Wörter insbesondere in griechischen Papyrus-Urkunden, aber auch in Inschriften und literarischen Texten fassbar werden, und zwar vor allem in den Bereichen des Alltagslebens (Recht, Militär, Handel) – auch hierzu bietet die Verfasserin eine weit differenziertere Darstellung, als ein kurzer Blick hier sie auch nur annähernd fassen könnte. Besonders spannend (und vielleicht sogar eine Anregung für eine interkulturelle Vertiefung lateinischer Wortschatzarbeit?) ist der „Index of Latin Words“ (704–731). Alles in allem bietet die Verfasserin in ihrem höchst systematisch aufgebauten und akribisch zusammengetragenen Lexikon einen vorzüglichen Einblick in die bilinguale Alltagswelt und die kulturelle Vielfalt der Antike. der sowohl die neugierige Entdeckungsreise wie auch die erkenntnisorientierte Berücksichtigung unbedingt lohnt.
Stefan Freund
Dezember 2024
- Details
- Hauptkategorie: Veröffentlichungen
Holland, Tom (2024), Pax. Krieg und Frieden im Goldenen Zeitalter Roms, aus dem Englischen von Susanne Held, Stuttgart (Klett-Cotta), 440 S., 11 Karten, 33 Farbabb., ISBN 978-3-608-98758-4, 32,00 Eur., e-book 978-3-608-12232-9, 25,99 Eur.
Ὁρᾶτε γὰρ ὅτι εἰρήνην μεγάλην ὁ Καῖσαρ ἡμῖν δοκεῖ παρέχειν, ὁτι οὐκ εἰσιν οὐκέτι πόλεμοι οὐδὲ μάχαι οὐδὲ λῃστήρια μεγάλα οὐδὲ πειρατικά, ἀλλ᾿ ἔξεστιν πάσῃ ὥρᾳ ὁδεύειν, πλεῖν ἀπ᾿ ἀνατολῶν ἐπὶ δυσμάς („Betrachtet doch nur den tiefen Frieden, den Caesar uns verschafft hat […] Es gibt keine Kriege oder Schlachten, keine Banditen oder Piraten, und das heißt, wir können reisen, wie es uns gefällt, und von Osten nach Westen segeln“ S. 366) lauten im Wortlaut die von Holland (H.) mehr paraphrasierend zitierten Worten des Philosophen Epiktet, um den Zustand des römischen Reiches unter der Herrschaft Hadrians zu beschreiben. Diese Wertschätzung der pax Romana sei „das fundierte Urteil eines Mannes, der weithin als der weiseste Mensch der Welt angesehen wurde" (S. 366). Es habe jenseits der persönlichen Sicht seines Verfassers der Vision des Kaisers entsprochen. Auch bei den Griechen habe diese aus der Erfahrung und Einsicht heraus Anklang gefunden, dass die Folgen ihrer Kriege innerhalb der kulturellen Gemeinschaft für alle Beteiligten „ruinös“ (S. 367) gewesen seien. Deshalb hätten sie sich von der versöhnenden Idee eines Panhellenion überzeugen lassen, das den Poleis, allen voran Athen und Sparta, dauerhaften Frieden und Wohlstand gebracht habe. Fände diese Lehre aus der Geschichte doch auch heute Beachtung!
Zu den friedensichernden Maßnahmen Hadrians zählt der Verf. außerdem den Auf- und Ausbau von Barrieren an den Außengrenzen des Imperiums wie etwa den Hadrianswall in Britannien, den Limes in Germanien und Befestigungsanlagen in Numidien; sie habe der Kaiser auf seinen ausgedehnten Reisen persönlich aufgesucht und dabei die dort stationierten Legionen inspiziert. Denn er sei zu der Überzeugung gelangt, „dass Expansionen über die natürlichen Grenzen der römischen Herrschaft hinaus das gesamte Gefüge des Imperiums bedrohten, woraus folgte, dass der ehrwürdige Traum von einer Herrschaft ohne Grenzen, einer Herrschaft, die buchstäblich die gesamte Welt umfasste, nichts weiter war als Phantasterei" (S. 352).
Hadrian habe also mit dem von Vergil formulierten römischen Anspruch auf Weltherrschaft (imperium sine fine Aen. I 279) gebrochen und die Verwirklichung eines innerhalb der Grenzen gültigen Friedens in den Mittelpunkt seiner Politik gerückt. Deshalb habe er den Rückbau der Eroberungen Trajans, seines Vorgängers und Adoptivvaters, in Mesopotamien und Dakien, aber auch im Norden der britischen Insel vorgenommen und eine Konsolidierung der römischen Macht im Inneren des Imperiums durch einsatzbereite Legionen an seinen Rändern vorangetrieben, um den allgemeinen Wohlstand im römischen Reich zu fördern. Die Gefährdungen der staatlichen Stabilität und der persönlichen Lebensumstände, die nach Neros Tod immer wieder in häufigen Thronwechseln und Ambitionen einzelner seit dem Vier-Kaiser-Jahr 68/69 bestanden hätten, habe er so in eine Epoche weitgehenden Friedens überführen können. Dieser Blick auf Hadrian lässt den Rezensenten auch ausgehend vom Titel des Buches den schon oben angesprochenen, dennoch aber eher vagen Eindruck gewinnen, dass es dem Verf. um ein Lob des Friedens im römischen Reich als Modell für unsere Welt gehen könnte. Dem steht allerdings zugleich entgegen, dass H. seinen historischen Abriss mit Hadrian abbricht, ohne auf seinen Nachfolger Antonius Pius einzugehen, der das Friedensprojekt seines Adoptivvaters langjährig fortsetzte. Auch der Detail- und Episodenreichtum in der Skizzierung der anderen, meist weniger friedfertigen Kaiser von Nero bis Trajan lässt Zweifel an der vermuteten Intention des Werkes aufkommen, da es keine durchgängig klare derartige thematische Orientierung erkennbar werden lässt.
In H.s Sicht kannte die pax Romana in ihrer hadrianischen Ausprägung zudem Ambivalenzen. „So wie die Athener unter der Schirmherrschaft Hadrians ihre alte Würde wiedererlangt hatten" (S. 368), hätten sich auch die Einwohner Jerusalems 60 Jahre nach der Zerstörung der Stadt ihren Wiederaufbau und besonders ihres Tempels erhofft. „Doch {sie} sollten enttäuscht werden" (S. 371, auch S. 348). Der Bau einer neuen, nach dem nomen gentilicium Hadrians benannten colonia Aelia Capitolina anstelle der Revitalisierung Jerusalems sei als Demütigung für ein „unverbesserlich rebellisches Volk“ (S. 371) angeordnet worden. Eine solche nachdrückliche Romanisierung nach dem Vorbild Korinths sei in der Perspektive des Kaisers „der sicherste Weg {gewesen}, einen dauerhaften Frieden zu garantieren“ (S.371). Dabei verkennt H., dass Hadrian mit der Gründung der colonia in erster Linie ein Privileg an ihre Bewohner vergab, nämlich die civitas Romana und Steuerfreiheit. Dass das neue, im Zuge der Stadtgründung errichtete Jupiterheiligtum an Stelle der erhofften Erneuerung der Beth haMikdash auf dem Tempelberg gestanden habe, entspricht ebenfalls nicht der wissenschaftlichen communis opinio, wie es bei H. den Anschein erweckt. Auch die fortdauernde Erhebung des fiscus Iudaicus anstelle der Tempelsteuer sowie ein mögliches Beschneidungsverbot Hadrians dürften weniger ursächlich für den nur wenig später ausbrechenden Bar Kochba-Aufstand gewesen sein als die wirtschaftlichen Verhältnisse in Judäa. Diese Zusammenhänge hätten Erwähnung bei H. verdient.
Anders als in Griechenland sei es Hadrian in diesem Teil der römischen Welt nicht gelungen, den Grundstein für dauerhaften Frieden zu legen, vielmehr habe er die Rebellion in Judäa überaus blutig niedergeschlagen und als Symbol seiner Macht ein kaiserliches Standbild aufstellen lassen, „als wolle er die letzte Erinnerung an das niedertrampeln, was Aelia Capitolina vormals gewesen war“ (S. 386).
Gerade diese Ereignisse offenbaren in der Sicht des Autors den repressiven Charakter des römischen Friedenskonzepts Hadrians: „Der Frieden war die Frucht des Sieges – des immerwährenden Sieges“ (S. 390). Ohne dass H. Vergil erwähnt, hatte in dieser Perspektive sein Diktum auch mehr als eineinhalb Jahrhunderte später noch nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt: tu regere imperio, Romane, memento / hae tibi erunt artes, pacique imponere morem, / parcere subiectis et debellare superbos, Aen. VI 851-53. Frieden ist also die Anerkennung der Suprematie der Sieger durch die Unterlegenen, nicht die gleichberechtigte Anerkennung differierender Interessen. Bei der Vermittlung des Panhellenions durch Hadrian deutete H. allerdings ein an gegenseitigem Interessenausgleich orientiertes Friedenskonzept an. Insofern ist der von ihm verwendete Begriff der pax Romana nicht klar definiert und bleibt deshalb zu vage, um die Frage nach der Intention des Buches unter seinem Titel Pax schlüssig zu beantworten.
Blickt man nach der Lektüre noch einmal zurück, bleibt der Eindruck zwiespältig. Es ist angenehm unterhaltsam zu lesen, die historischen Ereignisse und ihre Bedingungen sind anschaulich dargestellt, aber man vermisst im Interesse präziser historischer Erkenntnis die kritische Auseinandersetzung mit den reichlich beigezogenen Quellen, also die Erörterung der Frage nach deren verfolgten Absichten und Perspektiven. Auch werden sie gelegentlich nachlässig zitiert, wie etwa das eingangs erwähnte Wort Epiktets. Er hat es nicht selbst hinterlassen, wie die zugehörige Anmerkung 26, S. 416, den Anschein erweckt, sondern wird bei Arrian, Epicteti dissertationes ab Arriano digestae 3.13.9. überliefert. Darüber, dass porticus, ein öfter erwähnter Bauwerkstyp, kein Wort masculini generis, sondern Femininum ist, mag man noch hinwegsehen, dass aber das Roman Climate Optimum, das mit der langen Friedenszeit unter Hadrian und Antonius Pius korreliert, unerwähnt bleibt, stellt in einem englischen Buch ein Manko dar, zumal der Buchtitel seine behandelte Epoche das Goldene Zeitalter Roms nennt. Somit bleibt als Fazit: Es bedarf wachsam kritischer Leser:innen.
Michael Wissemann
November 2024
- Details
- Hauptkategorie: Veröffentlichungen
Hose, M., Formen und Funktionen griechisch-römischer Literatur. Aufsätze zur Literaturgeschichte und Literaturgeschichtsschreibung. Hrsg. Von Annamaria Peri und Tobias Thum. Franz Steiner Verlag: Stuttgart 2023. EUR 99,- (ISBN 978-3-515-13411-8)
Im Vorwort erfahren die Leserinnen und Leser von den beiden Herausgebern Annamaria Peri und Tobias Thum, welchen Themen und Arbeitsgebieten sich Martin Hose (H.), Professor für griechische Philologie an der Universität München, in seinen Qualifikationsschriften gewidmet hat: den Werken des Euripides und der griechisch-römischen Geschichtsschreibung (Vorwort). Die in dem Band versammelten Beiträge verstehen sich als „Vertiefungen und Erweiterungen“ zu den „grundlegenden literaturgeschichtlichen Überblicken“ von H. (Vorwort). Dazu gehören unter anderem folgende Werke: Kleine griechische Literaturgeschichte. Von Homer bis zum Ende der Antike. München 1999; Art. „Literatur III. Griechisch“, in: Der Neue Pauly, Bd. 7, 1999, Sp. 272-288; Art. „Poesie I (Gattung und Dichtungstheorie)“, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 27, 2016, Sp. 1055-1104 sowie „Poesie III (Dichter)“, ebenda, Sp. 1153-1185. Das Buch enthält sechs Rubriken mit 41 Abhandlungen, gefolgt vom Abschnitt: Publikationshinweise (618-620) und dem Register (621-634). Da ich aus Platzgründen nur auf wenige Beiträge eingehen kann, möchte ich den Blick schwerpunktmäßig auf Erstpublikationen lenken, ohne weitere Abhandlungen ganz aus den Augen zu verlieren.
Die erste Rubrik trägt den Titel: A. Funktionen und Formen der griechischen Literatur (1-131). Gleich der erste Aufsatz befasst sich mit zwei grundlegenden Texten der griechischen Literatur: „Vom Nutzen der Widersprüchlichkeit oder Welchen Sinn hatten Ilias und Odyssee für die griechische Kultur“ (3-19). H. weist zu Beginn seiner Ausführungen mit voller Berechtigung auf das Faktum hin, das am Anfang der griechischen Literatur zwei Texte entstanden, „die bis zum Ende dieser Literatur unangefochten als deren Spitzenprodukt gelten konnten. Ja, mehr noch: die Ilias und die Odyssee stellten von der Archaik bis zum Fall Konstantinopels 1453, also für mehr als 2000 Jahre, buchstäblich die Referenztexte der griechischen Literatur dar“ (3).
Im Gegensatz zum Pentateuch und dem Judentum, dem Neuen Testament und den Christen sowie dem Koran und der islamischen Welt stellen die beiden Epen keine normativen und schon gar keine heiligen Texte dar. Es handelt sich um „lebensgesättigte Erzählungen“, die dem Mythenkreis Trojas entnommen wurden (3). In beiden Texten lassen sich „diametral entgegengesetzte Weltverständnisse narrativ explizieren“ (17), in der Odyssee garantieren die Götter eine gerechte Welt, in der Ilias sind die Götter unberechenbar gegenüber den Menschen. H. verwendet in seiner Darstellung kurze Abschnitte aus den homerischen Epen, stets im griechischen Original, aber auch mit einer deutschen Übersetzung, um seine Thesen zu untermauern. Zugleich ist er erfolgreich bemüht die Leserinnen und Leser auf den aktuellen Forschungsstand zu bringen, an dessen Diskurs er maßgeblich beteiligt ist. H. bedient sich hier wie auch in den anderen Abhandlungen eines gut lesbaren Stils, erläutert seine Thesen nachvollziehbar und bietet am Ende des Aufsatzes Hinweise auf die benutzte Literatur.
In weiteren Beiträgen der Rubrik A thematisiert H. zum Beispiel das Problem der Originalität in der griechischen Literatur, geht auf methodische Fragestellungen und auf das Verhältnis vom lyrischen Ich und der Biographie des Lyrikers ein.
Die zweite Rubrik trägt die Überschrift: B. Epochensignaturen (in) der Literatur (133-214). Nach H.‘s Auffassung ist es eine der Aufgaben von Literaturgeschichtsschreibung „zwischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten angemessen zu gewichten, um hermeneutisch brauchbare Epochen konturieren zu können“ (135). Diese Überlegungen sind vor allem für die Zeit des Hellenismus relevant. Die Forscherinnen und Forscher der Philologie haben die Abgrenzung dieser Epoche von der Geschichtswissenschaft übernommen und waren gezwungen, sie „als literarhistorischen Zeitraum (…) zu konturieren“ (135). H. arbeitet heraus, dass von einem „Rückzug ins Private“ (…) „als Signatur der hellenistischen Literatur“ nicht die Rede sein kann (149). Des Weiteren prüft H. die Position der Dichtkunst im Reich der ersten Ptolemäer, analysiert den Bedeutungsverlust der institutionellen Rhetorik im vierten Jahrhundert, wendet sich dem Wirken Klemens von Alexandrien zu, wobei es um die Grenze zwischen Christen- und Heidentum geht, und stellt die Frage, ob es eine Konstantinische Literatur gibt.
Der wechselseitigen Rezeption römischer und griechischer Literatur gilt die Rubrik: C. (215-297). Während in der Rubrik: D. Gattungen und Schreibweisen im Vordergrund stehen (299-356), sind in der Rubrik: E. Literarische Konstruktionen Ziel der Untersuchungen (357-452). Insbesondere Julian Apostata steht mit zwei Beiträgen im Zentrum der Überlegungen. Da mit diesem Kaiser ein Ausnahmefall vorliegt, weil er eine Rückkehr zum Heidentum unternahm (vgl. R. Pfeilschifter, Julian: Rückkehr zum Heidentum, in: Ders., Die Spätantike. Der eine Gott und die vielen Herrscher, München 2014, 90-100), zieht der folgende Beitrag ein spezifisches Interesse auf sich: „Kaiserliche Selbstentwürfe: Julian Apostata“ (393-417). Von diesem Kaiser stammen mehr Texte als von jedem anderen seiner Vorgänger. H. listet die Texte (Reden, Traktate, Briefe und Epigramme, daneben weitere Fragmente) auf (393). Er geht von einem Abschnitt aus Aurelius Victors Liber de Caesaribus (cap. 42, 20-25) aus, der an Julians Vorgänger Constantius II orientiert ist und sich deshalb als Folie eignet, da er wahrscheinlich 360 verfasst wurde und damit „ein zeitgenössisches Streiflicht auf die Anforderungen an einen Kaiser wirft“ (345). H. stellt acht Anforderungen zusammen, die sich aus dem Text des Aurelius Victor ergeben (396) und vergleicht sie mit den Selbstaussagen Julians in verschiedenen seiner Schriften.
Diese verlangten Kriterien können zwei Bereichen zugeordnet werden, nämlich den „persönlichen physischen und psychischen Eigenschaften“ und den „Fähigkeiten, die für eine ‚erfolgreiche‘ Amtsführung erforderlich sind“ (396). H. erläutert seine Perspektive unter Verwendung von mehreren Unterabschnitten, in denen der „ungefährliche Caesar“ (298ff.), der „gerechte Usurpator“ (400ff.), der „Beschützer des Reiches“ und der „Schützer der Ordnung“ (403-408), der „Oberpriester“ (408-410), der „Kaiser als πεπαιδευμένος“ (410-413) sowie die „Eigenschaften eines Kaisers“ thematisiert wurden (413-414).
Vergleicht man die Anforderungen Aurelius Victors mit den Selbstaussagen Julians scheint der Kaiser über fast alle erforderlichen Qualitäten zu verfügen, wobei lediglich ein Aspekt offenbar ausgeblendet wurde, nämlich seine praktischen militärischen Kompetenzen.
Die Rubrik F. Philologie: Konzepte, Methoden und Personen (453-617) enthält gleich drei Erstpublikationen. Der Titel des ersten dieser drei Aufsätze lautet: „Altertums- oder Literaturwissenschaft? Chancen und Gefährdungen der Gräzistik“ (486-499). Zu Beginn skizziert H. in gebotener Kürze die Entwicklung bei der Besetzung von gräzistischen Lehrstühlen in Deutschland (und Österreich) und muss konstatieren, dass im Gegensatz zu früheren Zeiten heute oft nur eine einzige Forscherin/ein einziger Forscher einen Lehrstuhl innehat und dass bei Neugründungen (etwa wie in Augsburg, Bielefeld, Braunschweig/Osnabrück und Wuppertal) ganz auf die Berufung einer Professorin/eines Professors für Gräzistik verzichtet wurde. Sodann geht H. auf die innere Entwicklung des Faches Griechisch an Universitäten bis in die aktuelle Gegenwart ein.
- H. behandelt die Leistungen einiger Fachvertreter (K. Reinhardt, P. Friedländer, W. Schadewaldt, A. Lesky, H. Erbse, um nur einige wenigen Namen zu nennen) und skizziert das Verhältnis des Faches Griechisch zu anderen Disziplinen wie Latinistik, Philosophie, Theologie, Medizin, Jurisprudenz und Theaterwissenschaften (499ff.). Es stellt sich dabei die Frage, ob die Gräzistik sich mehr als Altertums-, Kultur- oder Literaturwissenschaft versteht. H. plädiert dafür, dass das von ihm vertretene Fach seine „methodologische Basis“ erweitert bzw. modernisiert anstatt auf dem Status Quo zu verharren (497).
Gleichwohl möchte H. nicht „die traditionellen Kenntnisse an Sprache und Literatur aufgeben“ (499). Er ist Realist und erkennt sehr wohl, dass es „uns die Literaturwissenschaften auch nicht leicht machen, „aus ihrem Angebot an Theorien und Methoden zu wählen“ (499). Humor zeigt H. mit folgender abschließender Bemerkung: „Vieles ist und bleibt für uns unverständlich, weil wir die jeweiligen Sprachen der Theorien nicht genügend kennen; bei vielem kommt hinzu, dass uns der Verdacht beschleicht, dass es nicht nur für uns unverständlich ist“ (499).
Auch der folgende Beitrag ist als Erstpublikation ausgewiesen: „Vergleichen als wissenschaftliche Methode und kulturelle Praxis in der griechischen Welt. Möglichkeiten und Grenzen eines Verfahrens“ (500-517). In der griechischen Kultur spielte das Vergleichen bei Agonen und taxonomischen Ordnungen eine extrem wichtige Rolle (500). H. erläutert seine methodische Vorgehensweise und kommt dann „zu einer systematischen Betrachtung des Vergleichs als wissenschaftliche Methode“ (504). H. erinnert daran, dass in fast „allen Bereichen der Lebensäußerungen Vergleichungen auftauchen“ (507). Aristoteles stellt in der Politik politische Systeme gegenüber, ebenso tut dies Polybios in seinem Geschichtswerk, Plutarch vergleicht Dichter und Politiker, Griechen werden mit Personen anderer Völker verglichen usw. (507). H. stellt dann im weiteren Verlauf seiner Darlegungen mehrere literarische Texte vor, die in diesem Themenbereich angesiedelt sind (Vergleiche bei Homer, Platons Symposion, Abschnitte aus Herodot und Ammianus Marcellinus). Die nachfolgenden Beiträge sind in der Regel Nachrufe auf bekannte Fachvertreterinnen /Fachvertreter (U. von Wilamowitz-Moellendorff, E. Schwartz, F. Dölger, B. Snell, K. von Fritz, U. Hölscher, J. de Romilly, W. Bühler, W. Burkert und E. Vogt). Da die Ausführungen zu Uvo Hölscher als Erstpublikation deklariert sind, möge ein kurzer Blick darauf gestattet sein. Wie in anderen Beiträgen dieser Art liefert H. Grunddaten zur Biographie und beschreibt dann die Leistungen im Einzelnen. Im Gegensatz zu den anderen Persönlichkeiten des Faches gibt H. zu, U. Hölscher kaum gekannt zu haben; daher greift er auf Informationen von Hölscher selbst und auf Nachrufe anderer zurück. Neben den Publikationen des Geehrten werden zahlreiche zeitgeschichtliche Details genannt, um das Wirken von Hölscher besser einordnen zu können. Die Leserinnen und Leser erfahren nicht nur wichtige Einzelheiten eines bedeutenden Vertreters des Faches, sondern auch zahlreiche Informationen über die Entwicklungsgeschichte der Gräzistik.
Abschließend kann konstatiert werden, dass H. klare Vorstellungen entwickelt hat, welche Ziele eine griechische Literaturgeschichte in der heutigen Zeit verfolgen soll und wie das Konzept dazu aussehen kann. Der von H. gewählte zeitliche Rahmen erstreckt sich von der homerischen Epik bis in die Zeit der frühen christlichen Literatur (etwa: Synesios von Kyrene) und bleibt nicht in der Epoche des Hellenismus stehen (323 bis 30 v. Chr.) – wie viele frühere Literaturgeschichten.
H. legt Perspektiven für eine griechische Literaturgeschichte vor, die die Relevanz der griechischen Texte für die allgemeine Literaturwissenschaft wie auch für die kulturwissenschaftlich orientierte Altertumswissenschaft hervorhebt. Wer diesen Band gründlich durchgearbeitet hat, ist auf dem neuesten Forschungsstand der Gräzistik.
Dietmar Schmitz
Oktober 2024
- Details
- Hauptkategorie: Veröffentlichungen
Johannes Breuer, Jochen Walter (Hrsg.), Violence in Antiquity. Religious Approaches to its Legitimation and Delegitimation, Stuttgart (Steiner) 2023, 42,00 Euro, ISBN 978-515-13450-7
An dieser Stelle einen wissenschaftlichen Tagungsband vorzustellen, dessen Beiträge überwiegend in englischer Sprache gehalten sind, mag der Rechtfertigung bedürfen. Doch leider ist das Thema der religiösen Legitimation (oder Delegitimation, aber das macht den geringeren Teil der Beispiele aus) von beklemmend ungebrochener Aktualität. Schon die Herausgeber beginnen ihr sorgfältig alle terminologischen Fragen abwägendes (in deutscher und englischer Sprache abgedrucktes) Vorwort mit einer Aufzählung von Gewalttaten der letzten Jahrzehnte, für die von den Akteuren selbst oder von dritter Seite eine religiöse Rechtfertigung vorgebracht wurde. Dass diese Liste seit der Tagung aus dem Jahr 2019, die dem Buch zugrunde liegt, und seit seinem Erscheinen länger geworden ist, muss man betrübt konstatieren. Den klugen definitorischen Überlegungen zu Religion und Gewalt kann man zum ersten Begriff insbesondere den Hinweis auf das scheinbare Paradox entnehmen, dass es zwar in der Antike keinen Terminus gibt, der unserer ‚Religion‘ entspräche, das Phänomen als solches aber Zusammenleben und Alltag, eben ohne einen eigenen Bereich zu bilden, in einem Maß durchdringt, dass aus gegenwärtiger Sicht erstaunlich erscheint. Die Beiträge sind chronologisch geordnet: Zunächst stellt Alexandra Eppinger die Prozesse gegen Anaxagoras, Diagoras und Protagoras vor, denen ‚Gottlosigkeit oder Asebie vorgeworfen wird, ohne dass man von Atheismus im gegenwärtigen Sinn sprechen könnte. Die Haltung der antiken Texte zum Vorgehen gegen dies Genannten lässt einen umfassenden Konsens über die Relevanz von Religion in antiken Gesellschaften erkennen. Iris Sulimani zeichnet nach, wie Diodor in seinem Geschichtswerk gewaltvolles Vorgehen von Göttern und Heroen zur Wiederherstellung der guten Ordnung rechtfertigt. Wegen seines Bezuges auch auf Texte des (Schulautors) Livius mag hier der Beitrag von Andreas Bärtschi bemerkenswert erscheinen: Er untersucht Tötungen zur Entsühnung von schlechten Vorzeichen in Rom. Konkret bezieht er sich auf das Selbstopfer des Marcus Curtius, der sich in einen Erdspalt auf dem Forum stürzt, auf Fälle von Vestalinnen, die nach dem Bruch ihrer Keuschheitsverpflichtung eingemauert werden, der rituellen Tötung von Fremden und der (mit Tötungsabsicht vollzogenen) Aussetzung von intersexuellen Kindern. Zwei Tendenzen lassen sich beobachten: Anlass der Gewalt ist eine umfassende gesellschaftliche Verunsicherung, z.B. durch Kriege oder andere bedrohlich empfundene Ereignisse. Und die Gewalt gegen andere (Ausnahme ist das Selbstopfer des Curtius) wird indirekt vollzogen; im Fall der Vestalinnen betont Livius die rituelle Notwendigkeit, während die anderen Fälle (Tötung von fremden und intersexuellen Kindern) tendenziell vom römischen Religionsbrauch abgerückt werden. Der Aufsatz von Kimberly B. Stratton stellt Texte vor, die das gewaltsame Vorgehen der Römer gegen die Juden rechtfertigen - aus christlicher Sicht argumentiert Justin, aus jüdischer Flavius Josephus. Die letzten drei Beiträge haben Texte zum Gegenstand, die sich mit gewaltsamem Handeln von Christen beschäftigen. Marcela Caressa bietet eine differenzierte Analyse einer Episode aus der Kirchengeschichte des Rufinus, in der von der Zerstörung eines Kultbildes in - so die These der Verfasserin - bereits vorchristlicher Zeit. Die Hinwendung des Augustinus zu einer Befürwortung von Gewalt im Umgang mit den Donatisten als vom Christentum abweichende Gruppe untersuchen Maijastina Kahlos und Liliane Marti. Am Ende steht ein Beitrag von Kathleen M. Kirsch, die aufzeigt, wie der christliche Dichter Prudentius in seiner Psychomachie die martialische (Bürger-)Kriegstopik aus der römischen epischen Tradition überführt in eine Darstellung des Kampfes der Tugend gegen das Laster, die das Gewaltsame als zum Guten des Menschen dienend erweisen will. - Der Band ist ein vorzügliches Beispiel, wie solide philologische Arbeit an Texten nicht nur zu erhellenden Einzelresultaten, sondern auch zu Einsichten führt, die zum Verständnis (und damit zur Lösung) gegenwärtiger Konfliktsituationen beitragen können.
Stefan Freund
September 2024
- Details
- Hauptkategorie: Veröffentlichungen
Welt und Umwelt der Bibel. Archäologie, Kunst, Geschichte, hrsg. von Katholisches Bibelwerk e.V., Stuttgart 2/2024, Christliche Häresien. Ringen um den richtigen Glauben, 80 S., 12,80 Euro
Der Begriff Häresie evoziert die Vorstellung von nicht tolerierten Ausrichtungen des christlichen Glaubens. Den Beginn dieser Füllung des ursprünglich neutralen griechischen Begriffs sehen Chr. Blumenthal (Das Neue Testament plädiert für theologische Diversität – Einzelschriften können auch anders … S. 11) und Chr. Hornung („Häretiker – gottlos, schwatzhaft und listig" S. 14-17) schon im Briefcorpus des Neuen Testaments bzw. bei Iustinus Martyr und Hippolytus von Rom im 2. Jh. nC. Mit noch negativerer Konnotation sprach man sogar von Ketzerei und stigmatisierte Abweichungen von mehrheitlich akzeptierten Glaubensüberzeugungen durch massive Polemik. Diese Zusammenhänge aus heutiger Sicht auch mit dem unbelasteten Begriff Heterodoxie (Chr. Handschuh, S. Huebenthal, M. Weißer, Auf der Suche nach christlicher Identität, S. 8f.) auf eine sachlichere Beurteilungsgrundlage zu stellen, hat sich das zweite Heft 2024 der genannten Zeitschrift zur Aufgabe gestellt: […] „belegt die Fülle der später als häretisch eingestuften und verurteilten Glaubensrichtungen, wie sehr Menschen auf dem Weg waren, gesucht und darum gerungen haben, was es heißt, an Jesus Christus und seinen Gott zu glauben“ (B. Leicht, Editorial, S. 1)
Dieses lebendige Ringen um die frühchristliche Entfaltung von Glauben und Konstituierung einer eigenen Identität veranschaulicht zunächst die schematisierte Übersicht über 20 Hauptströmungen früher Heterodoxien aus der Feder von Studierenden der Universität Passau (So viele Glaubensrichtungen wie Gläubige? S. 20-27). Sie lassen sich nach trinitätstheologischen, christologischen, soteriologischen, ekklesiologischen, asketischen und gnostischen Kriterien gliedern sowie nach ihrem Umgang mit jüdischem Erbe.
Bis in unsere Zeit dürfte der Streit um die Natur Christi, verknüpft mit den Namen der Alexandriner Alexander und Athanasios einerseits und des Arius andererseits, der bekannteste geblieben sein, also um Homousie oder Homöusie. Ihm widmet U. Heil (Keineswegs nur eine theologische Streitfrage, S. 36-41) eine ausführliche Darstellung und zeichnet darin das Entstehen des bis heute üblichen Glaubensbekenntnisses auch unter Berücksichtigung der politischen und sozialen Zeitumstände während der Konzile von Nicäa 325 und Konstantinopel 381-383 nach.
Nicht einmal zwei Generationen später erschütterte ein neuer christologischer Konflikt die Reichshauptstadt. Das Epitheton Marias, Theotokos, Gottesgebärerin, erregte Anstoß bei Anastasios und Nestorios. Sie lehnten den Titel ab, weil er die Göttlichkeit Christi in Frage stelle; Nestorios schlug stattdessen die Bezeichnung Christotokos vor. Seine Gegenspieler, Kyrill von Alexandria und Papst Coelestinus I. hingegen ziehen ihn, eine gottlose Lehre zu vertreten, indem er Christus zu einem gewöhnlichen Menschen herabwürdige. Mit dieser Argumentation setzten sich schließlich Kyrill und Memnon von Ephesus beim Konzil von Ephesus (431 nC), zu dem Kaiser Theodosius II. geladen hatte, durch und bewirkten die Exkommunikation des Nestorios und seine Absetzung als Patriarch von Konstantinopel. Neben den zur Entscheidung anstehenden theologischen Fragen, deren Lösung eine allgemein verbindliche Basis des Glaubens wiederherstellen sollte, schildert Chr. Lange (Nestorius war kein „Nestorianer", S. 48-53) auch die allzu weltlichen Umstände der Bischofsversammlung, die zur Verurteilung des Nestorios führten.
Gnostikoi bezeichnete nach Irenaeus und Porphyrius Menschen, die ihre Erlösung durch eine Erkenntnis zu erlangen suchten, die ihnen ein himmlischer Vermittler zukommen lasse. Zu dieser Vorstellung gehört nach J. Schröter (… die nach Erkenntnis suchen, S. 28-34) ein theologisches System, das zwischen einem oberen und einem niederen Gott unterscheidet, die Entstehung von Welt und Mensch durch einen kosmischen Mythos erklärt und vor allem platonische Entwürfe einbezieht. Als ihre Hauptvertreter stellt der Verfasser Basilides von Alexandria, Valentinus von Rom, Markion und „etliche Schriften aus Nag Hammadi“ vor.
Das Ringen um Rechtgläubigkeit und eine auch seitens der Kaiser politisch gewollte Einheitlichkeit des christlichen Glaubens führte für die Verfechter von Heterodoxien zu Exkommunikation, Amtsenthebung und Verbannung, aber auch zu darüber hinausgehenden Opfern. Musste sich etwa Nestorios noch nach Oberägypten ins Exil zurückziehen, wurde Priscillianus trotz Protests seitens des Papstes Siricius, des Ambrosius von Mailand und des Martinus von Tour 385 nC in Trier von einem kaiserlichen Gericht zusammen mit einigen Anhängern wegen Magie, Unzucht und Manichäismus zum Tode verurteilt. Die Einzelheiten des theologischen Streits und der politischen Umstände stellt W. Löhr (Das erste Todesurteil für Häretiker, S. 44-47) differenziert dar.
Neben derartigen tatsächlichen Verurteilungen entwickelte sich aber auch eine Tradition, Todesfälle von wegen Häresie Verurteilten als Gottesurteile erscheinen zu lassen. A Müller („Durch den Einsturz der Badestube getötet“, S. 42f.) stellt die Inszenierung eines unwürdigen Todes von Arius und Ebion in der Sicht des Kronstädter Reformators Valentin Wagner in seinem Katechismus von 1550 vor: Arius sei bei einem Toilettenbesuch niedergestürzt und in zwei Teile zerborsten, Ebion beim Einsturz eines Bades wegen seiner Gottlosigkeit ums Leben gekommen.
Dieser Beitrag führt mitten in die Problematik der Diffamierung von denjenigen, deren Glaubensinhalte keine mehrheitliche Anerkennung fanden oder von einer schon etablierten Hauptströmung abwichen. Die Polemik, die in solchen Kontroversen zur Anwendung kam und in der Literatur reichlicher überliefert ist als die Heterodoxien selbst, entspricht zwar der antiken rhetorischen Tradition, erscheint aber aus heutiger Sicht oft wenig nachvollziehbar. Das mag vielleicht der Grund dafür sein, dass von diesem Aspekt der theologischen Auseinandersetzungen im frühen Christentum in den hier vorgestellten Beiträgen kaum die Rede ist. Für diejenigen Leserinnen und Leser aber, die sich auch diesen Aspekt christlicher Auseinandersetzungen und Argumentationen erschließen möchten, weil er belegt, wie sehr das Christentum Teil der antiken Kultur ist, sei etwa I. Opelt, Die Polemik in der christlichen lateinischen Literatur von Tertullian bis Augustin, Heidelberg 1980 empfohlen. Eine Übersicht über weitere einschlägige Literatur ist bei M. Wissemann, Art. Schimpfwörter, https://www.telemachos.hu-berlin.de/latlex/s7.html verfügbar. Die Verflechtung des jungen Christentums mit der es umgebenden paganen Zivilisation akzentuiert auch der Zusammenhang von christlicher Identitätsstiftung und Konstituierung verbindlicher Glaubensüberzeugungen, die wie in der paganen Umwelt durch Diskussion und Differenzierung gewonnen wurden.
Besonders in dieser Hinsicht vermittelt das Thema des Heftes ein tieferes Verständnis all der Kontroversen im frühen Christentum, die unter dem Etikett Ketzerei und Häresien geführt wurden. Denn diese Heterodoxien, die man gemeinhin allzu oft nur aus der Perspektive der jeweils obsiegenden Partei kennt, werden einer objektiveren und gerechteren Beurteilung zugeführt und lassen dadurch das Heft für diejenigen, die sich mit dem Thema intensiver beschäftigen wollen, zu einer bereichernden Einstiegslektüre werden.
Michael Wissemann