Neuerscheinung des Monats

Kurt Roeske: Ovidius perennis – unsterblicher Ovid. Verwandlungsgeschichten – verwandelte Geschichten, Würzburg: Königshausen&Neumann 2022, 289 S., 19,80 €

„Texte, Bilder und Interpretationen von der Antike bis zu Peter Härtling und Pablo Picasso“ lautet der weitere Untertitel des neuen Buches von Kurt Roeske, der in den Jahrzehnten (sic!) seit seiner Pensionierung als Schulleiter, zuletzt des Rabanus-Maurus-Gymnasiums in Mainz, eine staunenswerte Fülle an Publikationen vorgelegt hat (vgl. hier S. 289). In zwölf Kapiteln (die nicht der Anordnung Ovids folgen) behandelt R. Passagen aus Ovids Metamorphosen, indem er sie zunächst teils paraphrasiert, teils (in der im gleichen Verlag erschienenen Prosaübersetzung Hermann Heiser, 2020) zitiert. Es folgen jeweils mehrere Beispiele für das Fortwirken Ovids in der deutschen und europäischen Literatur (am meisten – sechs – für Narcissus, eines – Shakespeare – für Adonis) sowie daran anschließend für die bildliche Rezeption. Für diese Abschnitte zeichnet eine ehemalige Kollegin R.s, Evelyn Hermann-Schreiber (Kunstlehrerin und selbst Künstlerin), verantwortlich.

R. behandelt Phaethon, Proserpina, Pyramus und Thisbe, Pygmalion, Philemon und Baukis (sic), die lykischen Bauern, Erysichthon, Marsyas, Midas, Adonis, Echo und Narcissus sowie die Fama – also viele (wenn auch nicht alle) auch aus der Schulpraxis bekannte Erzählungen. Dabei greift er auch in erheblichem Maß auf die aktuelle Ovidforschung zurück, was der Behandlung ein solides Fundament gibt, ohne dass R.s eigener Zugriff dahinter verschwinden würde.

Beim Raub der Proserpina führt R. Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller („Klage der Ceres“) und die Schillerparodie Heinrich Heines, außerdem die Anverwandlungen des 20. Jahrhunderts bei Christoph Ransmayr und Yvan Goll. Das Vorgehen entspricht weitgehend dem bei der Vorstellung der ovidischen Version: eine Mischung aus Paraphrase, Zitat und einigen deutenden Hinweisen. Als Dokumente aus der Kunstgeschichte stellt Evelyn Hermann-Schreiber Albrecht Dürers Kupferstich und Gian Lorenzo Berninis Skulptur in der Galleria Borghese, die – wie auch sonst – immer erst einmal formal beschrieben und dann vorsichtig gedeutet werden. Bild (soweit möglich: in Farbe) und Text sind prinzipiell synoptisch angeordnet und ermöglichen damit den unmittelbaren Vergleich. Dieses durchgängig eingehaltene Verfahren ermöglicht es den Leser:innen, sich rasch in den jeweiligen Kapiteln zurecht zu finden. Und sie treffen auf alte Bekannte, die „big names“ der Ovid-Rezeption (Shakespeare, Goethe, E.T.A. Hoffmann oder George Bernard Shaw in der Literatur, Rubens, Poussin, Waterhouse, mehrfach Picasso in der Kunstgeschichte). Ergänzt wird das um den Hinweis auf Ferdinand von Schirachs Adaption der Pygmalion-Sage (2018) sowie eine das Pyramus-und-Thisbe-Motiv aufgreifende Erzählung des Übersetzers Hermann Heiser (2020).

Aber auch wenn vieles, was R. und seine Kollegin anführen, bekannt ist, so ist es sehr erfreulich, diesen Überblick nicht nur als Katalog, sondern in zusammenhängend lesbarer Form vor sich zu haben und damit die Fülle der literarischen und künstlerischen Ovid-Rezeption vor Augen geführt zu bekommen. Auf diese Weise kann das Buch auch Anregungen für die schulische und universitäre Unterrichtspraxis liefern, wobei dann die Aufgabe bei den entsprechenden Lehrenden bleibt, das Verhältnis zwischen Ovid und seinen Nachfolgern genauer analytisch zu fassen, etwa mit den Mitteln der Rezeptions- und Transformationstheorie. Und nicht zuletzt ist es schön zu sehen, dass R. mit sichtlicher Freude an seinem Gegenstand schreibt und dass es ihm ein tiefes Anliegen ist, den „unsterblichen Ovid“ auch tatsächlich im Gedächtnis der Nachwelt am Leben zu halten.

Das Buch wird abgeschlossen durch einen Katalog von „Beispielen für Rezeption der Mythen in der Musik“ (273-274), einen Bildnachweis, der auch als eine Art von Katalog dienen kann, sowie eine thematisch gegliederte Bibliographie.

Ein Hinweis noch auf einen echten Irrtum: Das Fresko mit Pyramus und Thisbe aus Pompei (75) stammt natürlich nicht aus dem 3. Jh. n.Chr., denn da hatte der Vesuv schon gut zweihundert Jahre zuvor dafür gesorgt, dass es für lange Zeit nicht mehr sichtbar war. Aber das nur der Vollständigkeit halber, nicht um dem Buch in irgendeiner Weise zu nahe treten zu wollen.

Ulrich Schmitzer (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)

Armin Eich: Die Verurteilung des Krieges in der antiken Literatur, Münster: Aschendorff 2021, 275 S., 36, -- €

Dass Bücher ihr eigenes Schicksal haben, ist ein beinahe zu Tode zitierter Gemeinplatz (Terentianus Maurus: habent sua fata libelli). Doch im Falle von Armin Eichs Buch hat die Sentenz erschreckende Wahrheit gewonnen, denn wenige Monate nach der Veröffentlichung (und während diese Zeilen geschrieben werden) ist der Krieg im Herzen Europas angekommen, hat der von Wladimir Putin angeordnete Überfall auf die Ukraine die Frage nach Krieg und Frieden sowie der Haltung zu dieser Frage aus der Theorie in die Wirklichkeit geholt. Insofern ist die Lektüre auch ein Musterbeispiel für die Rezeptionsgeschichte, nämlich dafür, wie die jeweiligen aktuellen Kontexte die Lektüre leiten.

Armin Eich, Professor für Alte Geschichte an der Universität Wuppertal, hat weder ein pazifistisches Manifest geschrieben noch einfach eine als Kopiervorlage geeignete Anthologie von antiken Friedenstexten. Sein teils im Detail interpretierendes, teils umfangreichere literatur- und geistesgeschichtliche Epochen paraphrasierendes Buch ist durchaus komplex, so komplex wie das Thema, und zugleich herausfordernd (auch zum Widerspruch – dazu später mehr). Und das ist auch gut so: Denn selbst die beste Sache verträgt keine simplifizierende Reduktion auf ein moralisch einwandfreies, aber unterkomplexes Schwarz-Weiß.

Das erste Kapitel (12-22) ist gleich ein Meisterstück und behandelt Thersites, der im zweiten Buch von Homers Ilias als pedestrer Gegner der griechischen Heerkönige eingeführt wird. Sein Aufruf, die der Wortwahl kaum von derjenigen großer griechischer Heerführer, die in Momenten der Verzweiflung durchaus auch ihrerseits über den Abbruch des Krieges räsonierten. Aber die persönliche Disqualifizierung als neidisch, zänkisch und eben nicht ebenbürtig disqualifiziert auch seine Argumente, und das nicht nur in der Erzählung der Ilias, sondern auch in der Rezeption bis in unsere Tage (besonders bezeichnend ist das Verdikt des Aristokraten Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff über „die giftige Kröte, die ihren Geifer gegen die Besten spuckt“).

Diese Buchvorstellung soll ja nicht die eigene Lektüre ersetzen, deshalb will ich hier die Themen eher summarisch nachzeichnen (dieser Beschränkung fallen auch Isokrates und Dion sowie die spätantike Historiographie zum Opfer). Mit unverkennbarer Sympathie beschreibt Eich die Auffassung des Empedokles, der Friede gehöre genuin zur kosmischen Ordnung (23-31). Daran schließt sich der Blick auf die hellenistische Philosophie (einschließlich Lukrez) an und geht dem menschheitsgeschichtlichen Bild von der (verkürzt gesagt) ursprünglichen Golden Zeit und der Herrschaft der Dike nach (32-46). Das Thema greift Eich gegen Ende des Buches noch einmal auf, wenn er den im 4. Jahrhundert n.Chr. wirkenden Pythagoreer Iamblichos und dessen „Projekt eines allgemeinen Weltfriedens“ vorstellt (245-254).

Das athenische Drama ist mit Euripides (47-64) und Aristophanes (65-75) vertreten. Die Troierinnen und die Helena geben den kriegskritischen Stimmen von Sklaven und Frauen ein Forum, doch bezweifelt Eich, dass das männliche Publikum sich davon wirklich beeindrucken ließ. Den Herakles liest er als dramatisierte Pathologie von Gewalterfahrungen und Gewaltphantasien, wie sie auch in der Gegenwart sogar in Amokläufen endeten. Nicht ganz so gut wie die subtilen, gegen den athenischen main stream angehenden Friedensbotschaften des Euripides kommen die Stücke des Aristophanes weg, mag darunter auch der Frieden sein, da sich darin keine prinzipielle Absage an den Krieg fänden, sondern nur jeweils sich aus der Komödienkonstellation ad hoc ergebende.

An der Stoischen Philosophie (83-101) werden vor allem ihre friedliebenden Anfänge (namentlich durch den Schulgründer Zenon) hervorgehoben, während bei späteren, dank des Überlieferungsschicksals wirkmächtigeren Autoren (u.a. Cicero) die Gedankengänge vergröbert oder gar entstellt worden seien – nur Seneca geht als positive Ausnahme durch. Auch die augusteische Dichtung (102-136) erfährt durchaus Kritik, da sie insgesamt zu nahe an Augustus und der römischen Ideologie der Expansion des Reiches durch Angriffskriege sei. Die vorbehaltlos gewürdigte Ausnahme ist Tibull, vor allem sein Pax-Hymnus (Tib. 1,10), der gerade vor dem Hintergrund der Kriegszüge, an denen Tibull in der Entourage des Messalla gezwungenermaßen teilnahm, seine aktuelle Signifikanz erhält. Aber selbst Tibull muss sich anhören, dass seine Haltung zum Krieg individualistisch sei und nicht darauf abziele, weitere Kreise gegen das Militärische zu mobilisieren, und er aus der bequemen Sicherheit der Parkanlagen und Villen schreibe, nicht als Existentiell Betroffener.

Für die neronische Literatur (137-151) befasst sich Eich mit der bukolischen Poesie, Lucans Pharsalia (Singular, nicht Plural!) sowie Petrons Satyrica. Auch wenn Calpurnius Siculus die neue Goldene Zeit mit der Regierung Neros heraufziehen sieht, so ist doch die damit verbundene Friedensvision sehr nahe an entsprechenden biblisch-alttestamentarischen Vorstellungen wie bei Jesaja und Micha – näher, so Eich, als Vergils vierte Ekloge. Lucan attestiert er, dass er zwar intensive und schreckliche Kriegsbilder liefere, aber nicht aus einer prinzipiellen Ablehnung des Krieges heraus, sondern nur (oder „nur“?) weil die falsche Seite gesiegt hat. Der Gegentext dazu sei das in die Satyrica eingelegte, von Eumolp vorgetragene Bellum Civile, ein - so Eich – der härtesten Abrechnungen mit dem Imperialismus, da Krieg und Bürgerkrieg nicht durch fehlerhaftes individuelles Verhalten entstanden seien, sondern die unausweichliche Konsequenz der römischen Expansion.

Spannend ist der Umgang der Christen mit dem Themenkomplex Krieg und Militär (drei Kapitel: 161-244). Bis zur Konstantinischen Wende ist die Frage nach der christlichen Haltung dazu zwar eher marginal, aber doch recht eindeutig: Auch wenn es – in der Paulinischen Tradition der Staatsbejahung – keinen Aufruf zur massenhaften Kriegsdienstverweigerung oder Desertion gibt, so ist das militärische sacrarium im Sinne des Ersten Gebotes hochproblematisch (besonders dezidiert äußert sich Tertullian dazu). Darüber hinaus gehen die christlichen Autoren in der Fortsetzung alttestamentarischer Friedensentwürfe davon aus, dass Kriege ein Zeichen dafür sind, dass die Welt eben noch defizitär und das kommende Friedensreich noch nicht Realität geworden ist. Doch kaum haben sich die Machtverhältnisse geändert, ändert sich auch die Haltung von christlichen Autoren – ganz besonders deutlich am Beispiel des Lactanz auf dem Weg von Divinae Institutiones zu De mortibus persecutorum, von der Erfahrung der Ungerechtigkeit und des Leidens hin zum unbedingten Vernichtungswillen gegen die, die er als Feinde des Christentums sieht – si verbis audacia detur: vom Paulus zum Saulus.

Gegen die mit der neuen Einheit von Christentum und Macht einhergehende Befürwortung von Militär und Krieg als machterhaltendes, positiv zu sehendes Moment erhoben sich nur wenige Stimmen. So sind sowohl die Vita des Mönches Panchomius als auch die Acta Archelai von einer tiefen Skepsis gegenüber Soldatischem geprägt, ganz zu schweigen davon, dass Basilius Soldaten auf eine Stufe mit Mördern stellte, da ein Schwert nun einmal eine Mordwaffe sei. Dem schloss sich auch Paulinus von Nola an. Doch stammen diese antimilitärischen Stimmen von Autoren, die keine institutionelle Karriere anstrebten und deshalb auch keinen tatsächlichen Einfluss auf staatlich-kirchliche Entscheidungen hatten. Das stellte sich für Augustinus schwieriger und differenzierter dar, denn enthält De civitate dei die umfangreichste christliche Abrechnung mit der römischen Pazifizierungspolitik und die Absage an die militärische Durchsetzung von imperialen Ambitionen. Solange aber die göttliche universelle Ordnung noch nicht erreicht ist, können auch Friedliebende dazu gezwungen werden, zu den Waffen zu greifen. Der von Eich S. 238 zitierte Satz ist im Frühjahr 2022 von geradezu erschreckender Aktualität: iniquitas enim partis adversae iusta bella ingerit gerenda sapienti.

Wenn man das Buch als groß angelegten Überblick über das Friedensthema von Homer bis zur Spätantike liest, ist man überaus beeindruckt von der Weite des Blicks aber auch vom Mut des Verfassers, sich auf ein solches Unternehmen einzulassen. Wenn man konkrete Auskunft zu einzelnen Epochen oder Autoren sucht, stellt sich die Sache differenzierter dar und es gibt sehr wohl Aspekte, die zum Widerspruch herausfordern (einiges dürfte schon aus meinem bisherigen Referat spürbar geworden sein), etwa die eher aleatorische Auswahl der angeführten Forschungsliteratur oder die häufig zu verspürende Tendenz, den Autor mit seinem Text gleichzusetzen oder. Für letzteren Aspekt ein Beispiel aus dem Abschnitt über Ovid (der ganz offenkundig nicht zu Eichs Lieblingsautoren gehört): Wenn Eich dem (für sich genommen in der Tat ziemlich martialischen) Distichon Ov. fast. 5,59-60 attestiert, es schmecke „schon ziemlich nach Reichsparteitag“ (S. 135), und darin einen Beleg dafür sieht, dass der Dichter auf seine alten Tage sich zu patriotischer Größe aufgeschwungen habe, dann darf man dagegenhalten: Dieses Lob des Mars ist Teil der Diskussion um die Bedeutung des Monatsnamens Mai, die von drei Musen (Polyhymnia, Urania, Calliope) geführt wird und die (anders als beim Venusmonat April) auch nicht zu einem eindeutigen Ergebnis gelangt. Vielmehr bleibt der Erzähler der Fasti am Ende ratlos zurück und weiß nicht, ob er einer der Musen oder überhaupt keiner glauben darf. Die inkriminierten Verse kommen also gerade nicht mit auktorialer Beglaubigung daher, sondern sind einer dezidiert als unzuverlässig angeführten Quelle in den Mund gelegt (vgl. etwa die ausführliche Behandlung der Passage bei Johanna Löhr, Ovids Mehrfacherklärungen in der Tradition aitiologischen Dichtens, Stuttgart/Leipzig 1996, 214-291). Es ist eben nicht so einfach mit der Gesinnung Ovids und überhaupt der Dichter. Dies ist ein Beispiel dafür (und gerade im Abschnitt über die augusteische Literatur finde ich eine Reihe davon), wie man mit gutem Grund auch deutlich anderer Meinung sein kann als Eich, ohne dass dadurch die Argumentation in Bausch und Bogen verworfen werden müsste.

Im Gegenteil: Das was Eich auf der letzten Seite seiner Darstellung schreibt, verdient vorbehaltlos unterstrichen und verbreitet zu werden (270): „Dieses Buch sollte vor allem daran erinnern, dass trotz aller Skandalisierung und Tabuisierung im griechischen und römischen Altertum Menschen den Mut gefunden haben, dem Krieg als menschlicher Aktionsform eine Absage zu erteilen.“ Ob das so entstandene Corpus im Lateinunterricht Caesar ersetzen soll (so der abschließende Satz Eichs) oder ob man es nicht auch aushalten muss, dass die Römer (und Griechen) nicht in allen Belangen untadelig und vorbildlich sind und dass das auch im altsprachlichen Unterricht abzubilden ist – das ist eine so alte wie immer neu zu führende Diskussion – ein weites Feld.

Ulrich Schmitzer (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)

Hartwin Brandt, Handbuch der Altertumswissenschaft III, 11. Die Kaiserzeit. Römische Geschichte von Octavian bis Diocletian. 31 v. Chr. – 284 n. Chr. C. H. Beck: München 2021. 707 S. 98 EUR (ISBN: 978-3-406 77502 4).

Hartwin Brandt, ordentlicher Professor für Alte Geschichte an der Universität Bamberg, hat sich der mühevollen Arbeit unterzogen, das Handbuch der Altertumswissenschaften für die Römische Kaiserzeit neu zu verfassen. Es steht in der Tradition mehrerer von Hermann Bengtson verfassten Handbücher. Sehr zu begrüßen ist, dass der Verfasser die Möglichkeit erhielt, am Institute for Advanced Study in Princeton mehrere Monate im Jahr 2015 und während des akademischen Jahres 2017/2018 an dem Handbuch zu arbeiten. Außerdem förderte die Deutsche Forschungsgemeinschaft das Projekt, indem es eine Freistellung von allen Lehrverpflichtungen unterstützte (Oktober 2019 bis September 2020). Ohne derartige Förderungen ist es kaum möglich, ein solches Handbuch zu verfassen. Gleich zu Beginn des Vorworts richtet Hartwin Brandt Dankesworte an den Kölner Althistoriker Werner Eck, der das Manuskript begutachtet und sorgfältig studiert hat. Eck gilt als einer der profiliertesten Forscher der römischen Kaiserzeit. Im Literaturverzeichnis gibt es auf 4 Seiten Hinweise auf seine Publikationstätigkeit. Hartwin Brandt verfügt über immense Kenntnisse der gesamten römischen Kaiserzeit, denn er hat zwei Monographien über die Zeit von Diokletian bis zum Ende der konstantinischen Dynastie (284-363) (Berlin 1998) und über das Ende der Antike (München 2001) verfasst.

In der Einleitung (1-12) erläutert Hartwin Brandt seine Konzeption des Handbuchs. En passant erfährt der Leser, dass der spätere Kaiser Augustus sich nie Octavianus nannte, sondern nur Caesar. Gleich hier wird deutlich, dass sich Hartwin Brandt einerseits auf die antiken Quellen stützt, andererseits die aktuelle Forschungslage sehr gut kennt und für das Handbuch aufbereitet hat. Er möchte aber nicht „primär Zahlen, Daten und Fakten, also eine Summe und Ausbreitung sämtlichen verfügbaren positiven Wissens über die inneren und äußeren Geschehnisse und Verhältnisse zur Zeit des römischen Kaiserreiches“ bieten (5). Hartwin Brandt beabsichtigt „kein lexikonartiges Nachschlagewerk“ vorzulegen (5), „sondern eine in sich stimmige, durch ein stringent verfolgtes, argumentatives Konzept konsistente Gesamtdarstellung“ (5). Um es vorweg zu nehmen kann der Rezensent bereits an dieser Stelle mitteilen, dass Hartwin Brandt sein Ziel erreicht hat. Er erläutert auch, warum er Strukturen, Verhältnisse und Veränderungen in den Städten und Provinzen unberücksichtigt gelassen hat, die die Kaiser selten oder gar nicht aufgesucht haben (4). Vielmehr „setzt die vorliegende Darstellung auf ein variables, für die verschiedenen Kaiser je nach Überlieferungslage flexibel zu realisierendes, integriertes Konzept von Herrschaftsgeschichte, gelegentlich auch von Sozial-, Wirtschaft-, Kultur und Mentalitätsgeschichte, vor allem aber: auf die Analyse von Kommunikation und soziopolitischer Interaktion im weitesten Sinne“ (4). Hartwin Brandt erhebt keinen Totalitätsanspruch, sondern wählt je nach Bedarf aus dem breiten Spektrum an literarischen, epigraphischen, papyrologischen, numismatischen Quellen und archäologischen Denkmälern aus. Er rechtfertigt den Anfangspunkt, den das Jahr 31. v. Chr. darstellt, sowie das Jahr 284 n. Chr. als Schlussakkord (6f.). In dieser Rezension geht es nicht darum, viele Details aus dem Buch von Hartwin Brandt anzuführen oder gar zu kommentieren, vielmehr soll sie einige wichtige Eindrücke und einen Einblick gewähren - exemplarisch an drei Kaisern - wie der Verfasser des Handbuchs konzeptionell vorgegangen ist. Wenn der Autor eines Handbuchs wesentliche Erkenntnisse des aktuellen Forschungsstandes vermitteln soll, so ist es ihm gleichwohl gestattet, eigene Akzente zu setzen, auch bei der Wahl bestimmter Begriffe. So lehnt Hartwin Brandt die von Egon Flaig präferierten Ausdrücke „Akzeptanzsystem“ und „Akzeptanzmonarchie“ ab (9), sondern hat einen etwas schwerfällig anmutenden Ausdruck kreiert, nämlich: „Akzeptanzbedürfnissystem“ (9). Er meint damit folgendes: Realiter gab es keine Bemühungen, den von Augustus konzipierten Prinzipat zu verändern und eine neue Ordnung zu schaffen, „vielmehr waren es die individuellen Principes, welche in unterschiedlicher Art und Weise Akzeptanz für die eigene Person, ihre Familie und ihre besondere Form der Ausübung der Leitungsfunktion herstellen und erhalten mussten und dabei gelegentlich auch scheiterten“ (9).

Um die Akzeptanz der unterschiedlichen Gruppierungen in der damaligen Gesellschaft zu erreichen, war der jeweilige Prinzeps zur Kommunikation gezwungen. Diese beiden Kategorien gemeinsam mit den bereits angeführten verschiedenartigen Quellen sind die entscheidenden Merkmale dieses Handbuches.

Bevor ich auf die drei Kaiser (Augustus, Tiberius, Mark Aurel) zu sprechen komme, möchte ich einen kurzen Überblick über das Buch bieten. Der Aufbau richtet sich erwartungsgemäß nach chronologischen Gesichtspunkten. Im ersten Kapitel liefert Hartwin Brandt Informationen über die vorhandenen Quellen (13-35). Der erste Teil besteht aus einem Überblick, im zweiten Teil stellt er einzelne Autoren vor (21-34), von Aelius Aristides (21) bis Zosimos (34). Eine solche Übersicht ist für den Nutzer des Handbuchs hilfreich, denn er erfährt nicht nur grundlegende Informationen über die Autoren, sondern auch über wichtige Textausgaben und deutsche Übersetzungen. Im zweiten Kapitel wendet sich Hartwin Brandt dem ersten Kaiser der römischen Geschichte zu, nämlich Augustus (35-115), um sich im dritten Kapitel mit der julisch-claudischen Dynastie zu befassen (116-213). Die Repräsentanten dieser Epoche sind Tiberius (116-147), Caligula (147-168) und Nero (168-213). Das vierte Kapitel thematisiert das Vierkaiserjahr 68/69 n. Chr. (214-233). Danach stehen im fünften Kapitel die Flavier im Vordergrund (234-284). Die Adoptivkaiser sind die Hauptakteure der Zeit von 96 bis 180 n. Chr. (285-402). Die wichtigsten Kaiser waren Traian, Hadrian und Mark Aurel. Im siebten Kapitel stehen das Ende der Zeit der Adoptivkaiser und die Epoche der Severer im Fokus (403-481). Der Titel des achten Kapitels lautet: „Krise oder Transformation? Die Zeit der Soldatenkaiser (235-284) (482-585).

Der Anhang (589-707) enthält Karten, eine Zeittafel, Stammtafeln, Angaben zu Abkürzungen und ein sehr umfangreiches Literaturverzeichnis. Den Abschluss bilden das Stellenregister, das Personenregister sowie das allgemeine Register. Auch wenn das Literaturverzeichnis (619-670) sehr viele Titel enthält, stellt sich für den Autor stets die Frage, welche Publikationen aufgenommen werden und welche nicht. Diese Auswahl ist stets subjektiv, von einem Handbuch darf man aber erwarten, dass die entscheidenden Veröffentlichungen aufgeführt sind. Insgesamt hat Hartwin Brandt meines Erachtens maßgebliche Werke berücksichtigt.

Am Anfang des Kapitels über Augustus beginnt Hartwin Brandt mit Hinweisen auf die umfangreiche Quellenlage, die zu diesem Kaiser existiert, worauf der Autor ausführlich eingeht. Zunächst vermittelt er Informationen zu den antiken Quellen wie Sueton, Nikolaos von Damaskus, Velleius Paterculus, Flavius Josephus und vor allem Cassius Dio. Von großer Bedeutung, wenn auch teilweise einseitig, sind die zahlreichen Bemerkungen des Tacitus, und dies nicht nur im Fall des Prinzeps. Immer wieder greift Hartwin Brandt auf die Schrift des Augustus: Res gestae zurück. Vergessen werden auch nicht die augusteischen Dichter wie Vergil und Horaz. Besonderes Augenmerk verdienen nach Hartwin Brandt die zahlreichen Inschriften, die gerade im Zusammenhang mit der „medialen (Selbst-)Darstellung des Princeps und seine kommunikativen Intentionen, für den gesamten Komplex der Neuordnung der Verwaltung, die Prosopographie der senatorischen und ritterlichen Eliten und die Militärreformen“ stehen (35). Der erste Abschnitt des ersten Kapitels stellt die Bedeutung der Schlacht von Actium (31 v. Chr.) heraus; hierbei prüft Hartwin Brandt genau die antiken Quellen und gleicht sie mit den Befunden moderner Historiker ab. Werner Eck wurde bereits erwähnt, auch das zu einem Standardwerk avancierte Buch von Dietmar Kienast (Augustus. Prinzeps und Monarch. Darmstadt 1982, 42009 [nicht berücksichtigt hat Hartwin Brandt die 5. Auflage, Darmstadt 2014]) wird immer wieder zitiert.

Er zeichnet die weitere Entwicklung der folgenden Jahre genau nach, vor allem wie Augustus den Spagat geschafft hat, den Anschein zu erwecken, die alte res publica wieder herzustellen, und gleichzeitig seine Vormachtstellung als Prinzeps geschickt zu kaschieren. Dazu gelang es dem Herrscher, den einzelnen gesellschaftlichen Gruppierungen geschickt ihre jeweiligen Rollen zuzuordnen. Allerdings lässt sich nicht behaupten, dass Augustus von Anfang an gewusst hätte, wie sich das neue System des Prinzipats realisieren ließ, sondern es handelte sich um eine dynamische Entwicklung. Dabei war entscheidend, dass der Nachfolger Caesars allgemeine Akzeptanz erzeugte. In den sich daran anschließenden Abschnitten geht Hartwin Brandt näher auf die Krisen und Auswege, auf die Pax Augusta und auf das Verhältnis des Augustus zum römischen Reich ein. Dieser Kaiser verstand es meisterhaft, sich selbst öffentlich wirksam darzustellen bzw. darstellen zu lassen. Paul Zanker hat uns in seinem wegweisenden Buch erläutert, dass Augustus erkannt hat, welche Wirkung Bilder auf seine Zeitgenossen erzielten (Augustus und die Macht der Bilder. München 1987). Hartwin Brandt entwirft eine lebendige Skizze vom Leben des Kaisers, der immer wieder erfahren musste, dass ein möglicher Nachfolger verstarb, bis schließlich die Wahl auf Tiberius fiel, eine Person, die Augustus offensichtlich nicht für geeignet hielt. Die Rolle von Individuen wird beleuchtet, stets unter Rückgriff auf die antiken Quellen und die moderne Forschung. In Fällen, in denen die Sachlage nicht eindeutig ist, benennt Hartwin Brandt diesen Umstand. Als Beispiel möchte ich den Ort der Varus-Schlacht anführen, den manche Historiker und Archäologen in der Nähe von Kalkriese vermuten. Hartwin Brandt verweist auf die entscheidenden antiken Quellen und auf die jüngsten Studien zu diesem Thema und benutzt dabei das Wort „vielleicht“ (69). An mehreren Stellen seiner Ausführungen hebt er darauf ab, dass Augustus gezwungen war, die Vertreter wichtiger gesellschaftlicher Gruppen wie Senatoren, Ritter und Eliten in den Provinzen „als repräsentationsorientierte Statusgruppen“ ernst zu nehmen und „an der politisch-militärischen Praxis“ zu beteiligen, ohne die eigene Machtposition in Gefahr zu bringen (72). Ihm ist es nach Hartwin Brandt auch gelungen, „dass der Princeps die für ihn unverzichtbare Verfügungsgewalt über die militärischen Ressourcen in republikanische Formen“ zu kleiden (72). Ein wesentliches Moment der Selbstdarstellung manifestiert sich in der Bautätigkeit, die bereits beim jungen Prinzeps zu beobachten ist. Dem hat schon Sueton Rechnung getragen, als er feststellte, dass Augustus eine Stadt aus Marmor hinterlassen habe, während er eine aus Ziegeln vorgefunden habe (Suet. Aug. 28,3). Hartwin Brandt liefert einige Details dieser Bautätigkeit, wobei der Abschnitt den Titel: Die Monarchisierung des Stadtbildes trägt (98-108). Er skizziert im Anschluss daran die Ideologie des augusteischen Prinzipats und stellt die von Augustus bevorzugten Götter vor (109-115). Der Verfasser des Handbuchs zeichnet ein eindrucksvolles Bild des Kaisers Augustus nach, ohne dessen Schwächen auszublenden. Im Gegensatz zu einigen antiken Autoren entsteht kein einseitiges Bild des Begründers des Prinzipats. Auf Gegenwartsbezüge und Vergleiche mit aktuellen Herrschern verzichtet Hartwin Brandt. Ihm geht es darum, ein umfassendes Bild des Herrschers dem Leser zu vermitteln.

Im Falle des Tiberius ist die Quellenlage besonders gut. Tacitus, Cassio Dio, Sueton und Velleius Paterculus seien als Autoren genannt, die Einzelheiten zu Leben und Tätigkeit des Nachfolgers von Augustus vermitteln. Hartwin Brandt weist ausdrücklich auf die große Bedeutung der epigraphischen Dokumente hin und nennt zum Beispiel die Tabula Hebana, die Tabula Siarensis sowie das senatus consultum de Cn. Pisone patre (116/117). Im Gegensatz zu Augustus wird Tiberius meist negativ beurteilt, außer bei Velleius Paterculus. Den Quellen nach galt dieser Kaiser als Nachfolger nur als zweite Wahl, Augustus hatte sich eigentlich seine beiden Enkel und Adoptivsöhne C. und L. Caesar gewünscht, die aber frühzeitig starben. Obwohl Tiberius nach Aussagen des Tacitus die Taten und Worte des Augustus wie ein Gesetz beachtete (Tac. Ann. 4,37,3), gelang es ihm nicht an die Erfolge seines Vorgängers anzuknüpfen. Vor allem schaffte er es nicht, allseitige Akzeptanz zu erfahren. Auch Tiberius machte sich früh Gedanken über seinen Nachfolger, aber sowohl Germanicus als auch sein Sohn Drusus (minor) Caesar verstarben. Im Falle des letzteren gab es Gerüchte über eine Vergiftung durch den eigenen Vater, aber die antiken Quellen schlossen auch einen natürlichen Tod nicht aus (132). Tacitus und Cassius Dio überlieferten die Nachricht, Livilla, die Frau des Drusus, sei gemeinsam mit ihrem Liebhaber, dem Prätorianerpräfekten L. Aelius Seianus, für den Tod des Tiberius verantwortlich (132). Dieser war nach dem Rückzug des Kaisers auf die Insel Capri (26 n. Chr.) der einflussreichste Politiker in Rom gewesen (133-145). Ob er an einer Verschwörung gegen Tiberius beteiligt war, ist für Hartwin Brandt nicht plausibel, obwohl mehrere antike Autoren darüber berichten (Sueton, Josephus Flavius, 144). Das Bild dieses Kaisers ist ambivalent, er hatte vor seinem Amtsantritt beachtliche militärische Erfolge zu verzeichnen, auch in der Verwaltung der Provinzen kann man ihm erfolgreiches Wirken attestieren. Obgleich er die letzten 11 Jahre seines Lebens nicht in Rom weilte, sondern auf Capri, hat er seine Regierungsgeschäfte nicht vernachlässigt. Die Gründe für seine negative Beurteilung der meisten antiken Autoren sind vielfältig. Hartwin Brandt vertritt die Auffassung, Tiberius habe „die Möglichkeiten, über eine anspielungsreiche Baupolitik eine eigene «imago» zu entwickeln und damit die eigene Herrschaft in besonders eindringlicher Weise zu legitimieren, nicht genutzt“ (141). Er arbeitet deutlich heraus, dass Tiberius nicht in der Lage war, angemessen mit den verschiedenen einflussreichen gesellschaftlichen Gruppierungen zu kommunizieren. Palastintrigen, die bereits erwähnte Verschwörung des Seianus und die Beseitigung römischer Senatoren in zahlreichen Majestätsprozessen (136) sind weitere mögliche Gründe für die Ablehnung dieses Herrschers. Vergessen darf man indes nicht, dass Tiberius nicht nur Senatoren zu seinen Freunden (amici) zählte, sondern auch Ritter und Personen „unterhalb der aristokratischen Ebene wie den Astrologen Ti. Claudius Thrasyllus“ 135). Hartwin Brandt geht auch den überlieferten Umständen des Todes von Tiberius nach und wertet zu Recht die Quellen behutsam aus. Dass die römische Bevölkerung angeblich den Wunsch gehabt habe, Tiberius in den Tiber zu werfen (Tiberium in Tiberim! Suet. Tib. 75,1), könnte ein Indiz dafür sein, dass er die Akzeptanz des Volkes komplett verloren hatte.

Insgesamt wägt Hartwin Brandt die Informationen der unterschiedlichen antiken Quellen unter Berücksichtigung der neueren Forschung angemessen ab. Die jüngst erschienene Studie von Holger Sonnabend (Tiberius, Kaiser ohne Volk. WBG: Darmstadt 2021) konnte er allerdings noch nicht einsehen. Michael Mause macht darauf aufmerksam, dass Holger Sonnabend davor warnt, die einseitige kritische Perspektive der genannten Autoren auf Tiberius einfach zu übernehmen, sondern den Rat erteilt, „zwischen den Zeilen zu lesen“ (Michael Mause in seiner Rezension zum Buch von H. Sonnabend, in: Forum Classicum, Heft 3, 2021, 229).

Ich komme nun zum dritten Kaiser, über den einige Beobachtungen im Handbuch getroffen wurden: zu Mark Aurel. In diesem Fall gibt es ebenfalls eine gute Quellenlage und zahlreiche Veröffentlichungen, auch aus jüngster Zeit. Neben Cassius Dio sind als weitere Quellen die Historia Augusta, Fronto und Eusebius zu nennen. Auch Herodian liefert interessante Details zum Leben des Mark Aurel. Hartwin Brandt hat aus gutem Grund die antiken Quellen zu Lucius Verus berücksichtigt, der einige Jahre gemeinsam mit seinem Adoptivbruder und Schwiegervater als Kaiser bis zu seinem Tod mitregierte (bis 169 n. Chr.), in Form eines Doppelprinzipats, der auch als Samtherrschaft bezeichnet wurde (380ff.). Nicht zuletzt wegen seines philosophischen Werks: Selbstbetrachtungen haben bereits die Zeitgenossen Mark Aurel respektiert und bewundert. Er genoss sogar hohe Verehrung. Hartwin Brandt weist mit voller Berechtigung darauf hin, dass auch andere Facetten beachtet werden sollten. „Mark Aurel war so wenig ein dem Kriegsgeschehen abgeneigter, vergeistigter Philosophenkaiser wie Antoninus Pius ein pazifistisch gesonnener Friedensherrscher. Die bereits in der antiken Geschichtsschreibung verbreitete und in der modernen Forschung bisweilen geteilte Neigung, Mark Aurels Selbst- und Rollenverständnis als Kaiser mit Hilfe seiner «Selbstbetrachtungen» und zeitgenössischer philosophischer Anschauungen zu bestimmen – hier wäre vor allem die «Zweite Sophistik» zu nennen – führt zu Fehleinschätzungen“ (383). Quellen wie Inschriften, Münzen und archäologische Denkmäler beweisen, dass Mark Aurel durchaus seine Aufgaben im militärischen Sektor wahrgenommen hat (383/384). Hartwin Brandt arbeitet einerseits markante ältere Publikationen in seine Darstellung ein, wie etwa die bedeutende Studie von A.R. Birley (Marcus Aurelius. A Biography. 2. Aufl. London 1987), andererseits aber auch Veröffentlichungen jüngeren Datums (Klaus Rosen, Marc Aurel. Reinbek 1997; Jörg Fündling, Marc Aurel. Darmstadt 2008; Alexander Demandt, Marc Aurel. Der Kaiser und seine Welt. München 2018). Wie auch bei den anderen Kaisern greift Hartwin Brandt nicht nur auf literarische Quellen zurück, sondern auch auf numismatische, archäologische und weitere Dokumente wie Kunstwerke zurück. Ähnlich wie Augustus verstand es Mark Aurel meisterhaft, sich in Szene zu setzen und mit seinen Zeitgenossen angemessen und erfolgreich zu kommunizieren. So wurde er von Senat und Volk in einer Inschrift (CIL 6, 1014) als größter Imperator gerühmt (391). Seine Akzeptanz stand außer Frage.

Hartwin Brandt legt ein äußerst wichtiges und nützliches Instrumentarium für diejenigen vor, die sich mit der römischen Kaiserzeit von Augustus bis Diocletian intensiv auseinandersetzen möchten. Ihm ist es gelungen, ein sehr gut lesbares Handbuch zu verfassen, in dem er zu vielen Details eine klare Position bezieht und eine eindeutige Wertung vornimmt. Hartwin Brandt gebührt größte Anerkennung für seine Zeit und Mühe, die er für die Publikation eines solchen Opus auf sich genommen hat. Wie auch die anderen Handbücher dieser Reihe kann man in diesem Werk faktensichere Informationen abrufen, die auf einer soliden wissenschaftlichen Basis beruhen. Dank gebührt auch dem Lektorat des C. H. Beck Verlages für die äußerst akribische Drucklegung. Die Anschaffung dieses Handbuchs ist uneingeschränkt zu empfehlen.

Rezensent: Dietmar Schmitz

die kaiserzeit 3205064011

Peggy Leiverkus, Essensdarstellungen in Ovids Metamorphosen, Wuppertal: Polyphem-Verlag 2021 (Studia Montana) – 449 S. – ISBN 978-3-96954-003-9

Mit Peter Paul Rubens’ Jupiter und Merkur bei Philemon und Baucis als Covermotiv lädt Peggy Leiverkus ihre Leser*innen zu einer der bekanntesten Gastmahlszenen der römischen Literatur, gleichzeitig zu einer von vier ovidischen Essensschilderungen ein, die im Zentrum ihrer ebenso ausführlichen wie grundlegenden Monographie stehen. Dem, was sie ‚anrichtet‘ und ‚auftischt‘, liegt die von Stefan Freund betreute, von Christoph Schubert zweitbegutachtete und 2019 an der Bergischen Universität Wuppertal angenommene Dissertation der Verfasserin zugrunde. Besondere Erwähnung verdient die Wahl von Publikationshaus und -ort: Der noch junge Wuppertaler Polyphem-Verlag (https://www.polyphem-verlag.de/) gehört Peggy Leiverkus und ihrem Mann Patrick, der es übernommen hat (9) „[a]us dem Manuskript ein Buch zu machen, […] eine Kunst und bisweilen eine Plage.“ Das Resultat kann sich sehen lassen: Mit Liebe zum Detail, entwickeltem Fachwissen, philologischem Gespür und ohne je die großen Linien aus dem Blick zu verlieren, konzentriert sich die Autorin in vier ausgewogenen Kapiteln werkchronologisch auf aussagekräftige Passagen von sehr unterschiedlicher Länge aus den Metamorphosen. Sie setzt mit „Paradies oder Entbehrung? – Ovids goldenes Zeitalter (met. 1, 101-112)“ in der aurea aetas ein (unter Einbezug von Vergil, Horaz und Tibull), präsentiert „Römische pietas in drei Gängen – das Gastmahl bei Philemon und Baucis (met. 8, 626-724)“, wirft die im Gedächtnis bleibende Frage „Erdbeeren statt Menschenfleisch? – Polyphems Liebesgaben (met. 13, 812-837)“ auf und handelt schließlich „Über den Frevel des entarteten Bauches – die Rede des Pythagoras (met. 15, 75-478)“.

Dabei stellt Peggy Leiverkus überzeugend und nachvollziehbar Bezüge kompositorischer und inhaltlicher Natur zwischen den Episoden her und macht durchgehend die Rückbindung an mögliche Vorläufer und deren Einflüsse, aber auch Ovids ganz eigene Technik sichtbar: So liefert sie für das Goldene Zeitalter einen literaturgeschichtlichen Abriss von Hesiod bis Lukrez und eine kulturgeschichtliche Darstellung zu Weltaltermythen (Deszendenz, Aszendenz, Dialektik), verortet Philemon und Baucis motivgeschichtlich im Komplex der Theoxenie von der Genesis (mit hebräischem Text 166, nn. 21-22) über die griechische Literatur bis zu weiteren ovidischen Beispielen (aus den Fasti), präsentiert die verschiedenen ‚Polypheme‘ von Homer bis Nikochares zzgl. Schwerpunkt auf Theokrit und Vergil und gibt einen umfassenden Überblick über die Vegetarismusdebatte (mit Konzentration auf Empedokles und Theophrast). Nicht weniger als 23 Tabellen und (z.T. auch farblich) visuell hervorgebobene parallele Formulierungen ermöglichen den mühelosen Nachvollzug der Vielfalt des Gebotenen. Der weitgehend analoge Aufbau der vier Großkapitel und zahlreiche Rück- und Vorverweise unterstützen bei der raschen und zielgerichteten Orientierung in der umfangreichen Studie. Ein reichhaltiges und gut sortiertes Literaturverzeichnis und ein umfangreicher Index locorum (alphabetisch sortiert von Antiphanes bis Xenophanes) sind essentielle Hilfsmittel, die zugleich Einblick in den breiten Horizont der Verfasserin geben, aus dem – abgestimmt auf das Generalthema der Arbeit – eine systematische inhaltliche wie sprachliche, zuweilen auch textkritische Analyse in gut verdaulichen Portionen resultiert.

Als eine Art ‚Aperitif‘ ist dem ‚Hauptgang‘ – den vier Kapiteln zu den Metamorphosen – eine ‚Vorspeise‘ vorgeschaltet. Zu diesen ‚Appetizern‘ gehören neben dem erfrischenden Motto aus Herbert Grönemeyers Currywurst (11) „Gehse inne Stadt | Wat macht dich da satt | ’Ne Currywurst | Kommse vonne Schicht | Wat Schönret gibt et nich | Als wie Currywurst“  und konzisen „Vorbemerkungen“ (von Petron bis zum Epos) zunächst „Essensdarstellungen als Thema in der römischen Literatur“ (von Plautus bis Plinius). Es folgen ein ausführlicher „Forschungsüberblick“ (darunter „Soziologische und anthropologische Grundlagen“, „Forschungsansätze zum Essen und zur Ernährung in der Antike“, „Soziokulturelle Faktoren von Essen in der römischen Welt“ und „Essen als literarisches Motiv“) und eine Abrundung durch „Darstellungen von Essen in den Metamorphosen“, die Peggy Leiverkus wie ihre ganze Untersuchung als streng „[s]ystematische[n] Überblick“ anlegt.

Die Fülle des Materials bedingt es, dass manche Fußnote gleichsam Spezialstudien, wesentliche side steps zu den klugen Beobachtungen im Haupttext, enthält (z.B. 79-80, nn. 57-58 zu Empedokles und Hesiod). Desgleichen finden sich passim ausführliche Volltextzitate in den Fußnoten, die den Lesefluss der Interpretation unterbrechen würden, aber unerlässlich sind für ein möglichst vollständiges Erfassen der komplexen Materie. Somit besticht Peggy Leiverkus’ Arbeit neben neuen und stringent argumentierten Sichtweisen auf scheinbar bekannte (und vielleicht schon als ausinterpretiert angesehene) Episoden der Metamorphosen durch ein wohldosiertes Verhältnis von Kern- und Zusatzinformation – eine (Appetit)anregung zu Anschlussforschung. Wenn das so umgesetzt ist wie hier, dann dürfen Fußnoten durchaus beträchtliche Länge aufweisen.

Ovidische Spezifika sind kontinuierlich in kritischer Auseinandersetzung mit der (oft nahezu unüberschaubar gewordenen) Sekundärliteratur herausgearbeitet, zumal gerade im die Verfasserin besonders interessierenden Themenspektrum das weite Feld des Agrarwesens – Ackerbau ebenso wie Viehzucht –, aber auch die (allein schon terminologisch nicht immer unkomplizierten) Fachbereiche von Botanik und Zoologie in extenso zu berücksichtigen sind. Hiezu zieht sie gewinnbringend die entsprechende (landwirtschaftliche und enzyklopädische) Fachliteratur (v.a. Varros De re rustica, aber auch Plinius’ Naturalis historia) heran.

Nach der anregenden und abwechslungsreichen Lektüre von Peggy Leiverkus’ ‚Speisekarte‘ ist man Spezialist*in für Kornelkirschen, Erdbeerbäume (im Unterschied zu den [Wald]erdbeeren) und  herbae (mit einer umfangreichen Begriffsgeschichte 126-128, n. 288). Man ist informiert über (überwiegend negativ eingestufte oder verhinderte) Tieropfer – Pythagoras macht sich mit Verve, Emotionalität und philosophischen Argumenten zum Anwalt der Mitgeschöpfe, die Gans von Philemon und Baucis darf weiterleben wie einst (zumindest zwischenzeitlich) der Widder des Molorchos in Kallimachos’ Aitia. Weiters wird man unterrichtet über die Lagerung von Schweinespeck und Dörrfleisch, über Eicheln (als [tierisches] Nahrungsmotiv) und über die Zubereitung von in Asche gegarten Eiern (mit einem doppelten Verweis auf Martial, der sich hiebei ausschließlich an Ovid anlehnt: 203, n. 199). Schließlich lernt man simple und gerade deswegen köstliche Gerichte kennen und erfährt so manches über anerzogenen Geschmack, der von der jeweiligen gesellschaftlichen Schichtenzugehörigkeit, aber auch vom finanziellen Vermögen abhängt – eine Vorform (oder Spielart) des Gegensatzes von Glutamat, Palmöl und künstlichen Aromen auf der einen und Bio-Nahrungsmitteln auf der anderen Seite. Man kann sich – um im Bild zu bleiben – durch die ganze Palette, sozusagen ab ovo usque ad mala, durchkosten oder (nur) einzelnes probieren: Das ‚Geschmackserlebnis‘ wird ein bleibendes sein.

Als Leser*in von Peggy Leiverkus erfährt man (oder fühlt sich darin bestätigt), dass Ovid vielfach multiperspektivisch, v.a. aber gegen den mainstream gelesen werden will: Sein Konzept der aurea aetas ist nicht (im naturwissenschaftlichen Sinn) eineindeutig; zivilisatorischer Fortschritt und Sehnsucht nach der ‚guten alten Zeit‘ (oder dem, was man darunter verstehen wollte) stehen gleichberechtigt nebeneinander; Ernährung hat durchaus mit (recht eindeutig römischer oder romanisierter) Moral(isierung) zu tun, wenngleich Ovids Essensdarstellungen aufgrund ironischer Brechung und damit einhergehender Distanzierung mehrdeutig bleiben (375): „Offenbar hat er sich bewusst dafür entschieden, sich auf dieses politisch aktuelle Feld zu begeben, aber auch dafür, nicht eindeutig Stellung zu beziehen.“ (Das hat u.a. den positiven Effekt, dass erhitzte wissenschaftliche Diskussionen darüber, ob Ovid im Gefolge des Pythagoras als eine Art Protovegetarier oder -veganer gesehen werden kann, vergnügt weitergehen dürfen und im Sinne des Meinungspluralismus und der akademischen Streitkultur die [philologische] Disziplin voranbringen.) Zudem erweist die Verfasserin Ovid als Meister der Gattungsmischung: Polyphems einseitig bleibende Liebe zu Galatea weist Schnittflächen zur (vergilischen) Bukolik auf, ist doch auch der einäugige Riese Hirte – im übrigen ein sehr römischer im Vergleich zu den griechischen Darstellungen. Ovids flirrende Doppelbödigkeit und ebenso psychologisierende wie genderspezifische Darstellung zeigt sich an der bestechenden Gegenüberstellung von Polyphems und Galateas abweichenden, v.a. aber völlig inkompatiblen Sichtweisen auf (gutes) Essen (290–291); daraus resultieren Missverständnisse, die wechselseitiges Verstehen und Verständnis verunmöglichen – und nicht zuletzt sind Bezugspunkte zur Satire vorhanden (372): „Das Gastmahl von Philemon und Baucis ist ein auf die Spitze getriebenes Musterbeispiel römischer frugalitas und pietas, Polyphem ist ein barbarischer Gourmet, Pythagoras ein wütender Moralapostel.“

Zutreffende Zuspitzungen wie diese – allesamt in den „Schlussbemerkungen“, sozusagen der ‚Nachspeise‘ – bleiben in Erinnerung und regen zum Nachdenken über die unzähligen Facetten an, die Peggy Leiverkus in großer Belesenheit und mit Feingefühl für den (Sub)text en détail interpretiert. „Essensdarstellungen in Ovids Metamorphosen“ werden ausschließlich über „Books on Demand, Norderstedt“ geliefert. Dem geschmackvollen Buch ist zu wünschen, dass dieses ‚Lieferservice‘ von möglichst vielen literarisch (und sozial- und kulturhistorisch interessierten) Gourmets in Anspruch genommen werden möge.

[cf. Wiener Studien – Rezensionen 134 (2021), 123-124 =  https://doi.org/10.1553/wst_134]

Sonja Schreiner

Institut für Klassische Philologie, Mittel- und Neulatein
Universität Wien
Universitätsring 1
A-1010 Wien 
https://klassischephilologie.univie.ac.at/ueber-uns/mitarbeiterinnen/neulateinische-philologie/sonja-schreiner/Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
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Leiverkus

Marion Giebel: Julian Apostata, Rede zu Ehren der Kaiserin Eusebia, zweisprachige Ausgabe, Speyer: Kartoffeldruck-Verlag 2021 (Opuscula 1) 100 S., 4, -- €[i]

Kai Brodersen: Symeon Seth, Fabelbuch, griechisch und deutsch, Speyer: Kartoffeldruck-Verlag 2021 (Opuscula 2) 172 S., 6,-- €

Gleich zwei Bücher, aber für einen Preis, für den man normalerweise bei weitem nicht einmal eines bekommt: Kai Brodersen hat sich mit dem von ihm begründeten und betriebenen Kartoffeldruck-Verlag (https://www.kai-brodersen.eu/kartoffeldruck-verlag/) vorgenommen, „zum reinen Selbstkostenpreis – in kleiner Auflage Bücher für Expertinnen und Experten in Altertumswissenschaft und Schule“ zu publizieren und damit Texten eine Leserschaft zu verschaffen, die von kommerziellen Zwängen unterworfenen (Groß)-Verlagen kaum angefasst würden (aber sie sind ganz regulär über den stationären und digitalen Buchhandel erhältlich).

Marion Giebel muss man hier nicht vorstellen (vgl. die Würdigung durch Friedrich Maier im 2019 im Forum Classicum: https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/fc/article/view/64756/57610), ihr Interesse an der Antike erstreckt sich von Homer bis zu Julian (mit dem von der christlichen Tradition verliehenen despektierlichen Beinamen Apostata), dem sie bereits 2002 eine biographische Darstellung gewidmet hatte. Nun befasst sie sich mit der Dankesrede Julians auf Eusebia (ca. 356/357 n.Chr), die als Gattin des Kaisers Constantius II ihn bei seiner politischen Karriere (noch war er allerdings nicht Kaiser) sehr unterstützte.

Das Büchlein weist all die Tugenden auf, die seit jeher die Publikationen Marion Giebels auszeichnen: eine konzise Einleitung, in der sie die Gattung des panegyricus vorstellt, sodann auf die Biographie Julians eingeht sowie speziell seine Beziehung zu Eusebia – all das mit Verweisen auf grundlegende und aktuelle Sekundärliteratur untermauert. Den Hauptteil (S. 15-81( bildet die griechisch-deutsche Rede selbst, wobei die Übersetzung in der von Marion Giebel gewohnten Qualität textnah und verständlich (auch ohne Beiziehung des Originals) ausgefallen ist und durch Anmerkungen unterstützt ist. Es schließt sich ein Anhang mit Parallelzeugnissen (Ammian, Libanios, Zosimos) an, bevor ein dreiseitiges Literaturverzeichnis das Buch beschließt.

Marion Giebels Ausgabe ermöglicht es, zu einem mehr als fairen Preis den Einstieg in eine Epoche zu finden, die viele Studierende und Lehrende der Altertumswissenschaften immer noch leichtfertig beiseitelassen, nicht ahnend, was sie dadurch verpassen. Und wer sich einmal darauf eingelassen hat, der wird womöglich mehr über die Spätantike und das sich anschließende Frühe Mittelalter wissen wollen – vielleicht folgen auf die 100 Seiten Marion Giebel die 1500 Seiten Mischa Meier. Das Julian-Buch also als Einstiegsdroge in die Spätantike – warum nicht?

Kai Brodersen, der Verleger und Reihenherausgeber, seinerseits hat – zu Ehren von Niklas Holzberg und dessen Arbeiten zur antiken Fabel – eine aus dem indisch-iranischen Raum stammende, arabisch überlieferte, im Mittelalter durch den Gelehrten Symeon Seth in byzantinisches Griechisch übersetzte Fabelsammlung aus den Tiefen der Wissensarchive geholt. Diese Wiederentdeckung bereichert das vor allem durch Äsop/Phaedrus geprägte Bild von der antiken Fabel und zeigt, dass es auch außerhalb der äsopische Tradition wichtige und mit Gewinn zu berücksichtigende Formen dieser Gattung gibt. Der Text im Umfang von je ca. achtzig Seiten (griechisch und deutsch, synoptisch angeordnet), verteilt auf zwei Teile, präsentiert einen in eine Rahmenerzählung eingebundenen Fürstenspiegel, in dem die Tiere durchaus nicht nur positiv gezeichnete Abbilder der Menschen sind: ein seiner selbst ungewisser Löwe als König, zwei Schakale als nicht uneigennützige Ratgeber, ein Stier, dem seine Kraft nichts nützt und der letztlich der Angst des Löwen zum Opfer fällt. In diese Haupthandlung eingelegt sind eine ganze Reihe von Exempeln, die vor allem von den Schakalen erzählt werden und die weitere, hierarchisch niedrigere Tiere (manchmal aber auch Menschen) als Handlungsträger haben. Die moralische Botschaft ist alles andere als eindeutig und gerade deshalb sehr reizvoll zu lesen: Es gibt nicht einfach Gut und Böse, Schwarz und Weiß, sondern viele Abschattierungen – und letztlich sind ethische Fragen doch wieder Machtfragen.

Mit der Reihe „Opuscula“ aus dem Kartoffeldruck-Verlag erhält das Publikum die Chance, sich für wenig Geld ein unbekanntes Terrain zu erschließen und wieder einmal festzustellen, welch reiche Schätze die Literatur der Antike und der antiken Tradition enthält – der Blick über den sich immer mehr verengenden Schulkanon hinaus wird vielfach belohnt. Kai Brodersen und Marion Giebel sei dafür herzliche gedankt.

Ulrich Schmitzer (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)

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