Neuerscheinung des Monats

Peggy Leiverkus, Essensdarstellungen in Ovids Metamorphosen, Wuppertal: Polyphem-Verlag 2021 (Studia Montana) – 449 S. – ISBN 978-3-96954-003-9

Mit Peter Paul Rubens’ Jupiter und Merkur bei Philemon und Baucis als Covermotiv lädt Peggy Leiverkus ihre Leser*innen zu einer der bekanntesten Gastmahlszenen der römischen Literatur, gleichzeitig zu einer von vier ovidischen Essensschilderungen ein, die im Zentrum ihrer ebenso ausführlichen wie grundlegenden Monographie stehen. Dem, was sie ‚anrichtet‘ und ‚auftischt‘, liegt die von Stefan Freund betreute, von Christoph Schubert zweitbegutachtete und 2019 an der Bergischen Universität Wuppertal angenommene Dissertation der Verfasserin zugrunde. Besondere Erwähnung verdient die Wahl von Publikationshaus und -ort: Der noch junge Wuppertaler Polyphem-Verlag (https://www.polyphem-verlag.de/) gehört Peggy Leiverkus und ihrem Mann Patrick, der es übernommen hat (9) „[a]us dem Manuskript ein Buch zu machen, […] eine Kunst und bisweilen eine Plage.“ Das Resultat kann sich sehen lassen: Mit Liebe zum Detail, entwickeltem Fachwissen, philologischem Gespür und ohne je die großen Linien aus dem Blick zu verlieren, konzentriert sich die Autorin in vier ausgewogenen Kapiteln werkchronologisch auf aussagekräftige Passagen von sehr unterschiedlicher Länge aus den Metamorphosen. Sie setzt mit „Paradies oder Entbehrung? – Ovids goldenes Zeitalter (met. 1, 101-112)“ in der aurea aetas ein (unter Einbezug von Vergil, Horaz und Tibull), präsentiert „Römische pietas in drei Gängen – das Gastmahl bei Philemon und Baucis (met. 8, 626-724)“, wirft die im Gedächtnis bleibende Frage „Erdbeeren statt Menschenfleisch? – Polyphems Liebesgaben (met. 13, 812-837)“ auf und handelt schließlich „Über den Frevel des entarteten Bauches – die Rede des Pythagoras (met. 15, 75-478)“.

Dabei stellt Peggy Leiverkus überzeugend und nachvollziehbar Bezüge kompositorischer und inhaltlicher Natur zwischen den Episoden her und macht durchgehend die Rückbindung an mögliche Vorläufer und deren Einflüsse, aber auch Ovids ganz eigene Technik sichtbar: So liefert sie für das Goldene Zeitalter einen literaturgeschichtlichen Abriss von Hesiod bis Lukrez und eine kulturgeschichtliche Darstellung zu Weltaltermythen (Deszendenz, Aszendenz, Dialektik), verortet Philemon und Baucis motivgeschichtlich im Komplex der Theoxenie von der Genesis (mit hebräischem Text 166, nn. 21-22) über die griechische Literatur bis zu weiteren ovidischen Beispielen (aus den Fasti), präsentiert die verschiedenen ‚Polypheme‘ von Homer bis Nikochares zzgl. Schwerpunkt auf Theokrit und Vergil und gibt einen umfassenden Überblick über die Vegetarismusdebatte (mit Konzentration auf Empedokles und Theophrast). Nicht weniger als 23 Tabellen und (z.T. auch farblich) visuell hervorgebobene parallele Formulierungen ermöglichen den mühelosen Nachvollzug der Vielfalt des Gebotenen. Der weitgehend analoge Aufbau der vier Großkapitel und zahlreiche Rück- und Vorverweise unterstützen bei der raschen und zielgerichteten Orientierung in der umfangreichen Studie. Ein reichhaltiges und gut sortiertes Literaturverzeichnis und ein umfangreicher Index locorum (alphabetisch sortiert von Antiphanes bis Xenophanes) sind essentielle Hilfsmittel, die zugleich Einblick in den breiten Horizont der Verfasserin geben, aus dem – abgestimmt auf das Generalthema der Arbeit – eine systematische inhaltliche wie sprachliche, zuweilen auch textkritische Analyse in gut verdaulichen Portionen resultiert.

Als eine Art ‚Aperitif‘ ist dem ‚Hauptgang‘ – den vier Kapiteln zu den Metamorphosen – eine ‚Vorspeise‘ vorgeschaltet. Zu diesen ‚Appetizern‘ gehören neben dem erfrischenden Motto aus Herbert Grönemeyers Currywurst (11) „Gehse inne Stadt | Wat macht dich da satt | ’Ne Currywurst | Kommse vonne Schicht | Wat Schönret gibt et nich | Als wie Currywurst“  und konzisen „Vorbemerkungen“ (von Petron bis zum Epos) zunächst „Essensdarstellungen als Thema in der römischen Literatur“ (von Plautus bis Plinius). Es folgen ein ausführlicher „Forschungsüberblick“ (darunter „Soziologische und anthropologische Grundlagen“, „Forschungsansätze zum Essen und zur Ernährung in der Antike“, „Soziokulturelle Faktoren von Essen in der römischen Welt“ und „Essen als literarisches Motiv“) und eine Abrundung durch „Darstellungen von Essen in den Metamorphosen“, die Peggy Leiverkus wie ihre ganze Untersuchung als streng „[s]ystematische[n] Überblick“ anlegt.

Die Fülle des Materials bedingt es, dass manche Fußnote gleichsam Spezialstudien, wesentliche side steps zu den klugen Beobachtungen im Haupttext, enthält (z.B. 79-80, nn. 57-58 zu Empedokles und Hesiod). Desgleichen finden sich passim ausführliche Volltextzitate in den Fußnoten, die den Lesefluss der Interpretation unterbrechen würden, aber unerlässlich sind für ein möglichst vollständiges Erfassen der komplexen Materie. Somit besticht Peggy Leiverkus’ Arbeit neben neuen und stringent argumentierten Sichtweisen auf scheinbar bekannte (und vielleicht schon als ausinterpretiert angesehene) Episoden der Metamorphosen durch ein wohldosiertes Verhältnis von Kern- und Zusatzinformation – eine (Appetit)anregung zu Anschlussforschung. Wenn das so umgesetzt ist wie hier, dann dürfen Fußnoten durchaus beträchtliche Länge aufweisen.

Ovidische Spezifika sind kontinuierlich in kritischer Auseinandersetzung mit der (oft nahezu unüberschaubar gewordenen) Sekundärliteratur herausgearbeitet, zumal gerade im die Verfasserin besonders interessierenden Themenspektrum das weite Feld des Agrarwesens – Ackerbau ebenso wie Viehzucht –, aber auch die (allein schon terminologisch nicht immer unkomplizierten) Fachbereiche von Botanik und Zoologie in extenso zu berücksichtigen sind. Hiezu zieht sie gewinnbringend die entsprechende (landwirtschaftliche und enzyklopädische) Fachliteratur (v.a. Varros De re rustica, aber auch Plinius’ Naturalis historia) heran.

Nach der anregenden und abwechslungsreichen Lektüre von Peggy Leiverkus’ ‚Speisekarte‘ ist man Spezialist*in für Kornelkirschen, Erdbeerbäume (im Unterschied zu den [Wald]erdbeeren) und  herbae (mit einer umfangreichen Begriffsgeschichte 126-128, n. 288). Man ist informiert über (überwiegend negativ eingestufte oder verhinderte) Tieropfer – Pythagoras macht sich mit Verve, Emotionalität und philosophischen Argumenten zum Anwalt der Mitgeschöpfe, die Gans von Philemon und Baucis darf weiterleben wie einst (zumindest zwischenzeitlich) der Widder des Molorchos in Kallimachos’ Aitia. Weiters wird man unterrichtet über die Lagerung von Schweinespeck und Dörrfleisch, über Eicheln (als [tierisches] Nahrungsmotiv) und über die Zubereitung von in Asche gegarten Eiern (mit einem doppelten Verweis auf Martial, der sich hiebei ausschließlich an Ovid anlehnt: 203, n. 199). Schließlich lernt man simple und gerade deswegen köstliche Gerichte kennen und erfährt so manches über anerzogenen Geschmack, der von der jeweiligen gesellschaftlichen Schichtenzugehörigkeit, aber auch vom finanziellen Vermögen abhängt – eine Vorform (oder Spielart) des Gegensatzes von Glutamat, Palmöl und künstlichen Aromen auf der einen und Bio-Nahrungsmitteln auf der anderen Seite. Man kann sich – um im Bild zu bleiben – durch die ganze Palette, sozusagen ab ovo usque ad mala, durchkosten oder (nur) einzelnes probieren: Das ‚Geschmackserlebnis‘ wird ein bleibendes sein.

Als Leser*in von Peggy Leiverkus erfährt man (oder fühlt sich darin bestätigt), dass Ovid vielfach multiperspektivisch, v.a. aber gegen den mainstream gelesen werden will: Sein Konzept der aurea aetas ist nicht (im naturwissenschaftlichen Sinn) eineindeutig; zivilisatorischer Fortschritt und Sehnsucht nach der ‚guten alten Zeit‘ (oder dem, was man darunter verstehen wollte) stehen gleichberechtigt nebeneinander; Ernährung hat durchaus mit (recht eindeutig römischer oder romanisierter) Moral(isierung) zu tun, wenngleich Ovids Essensdarstellungen aufgrund ironischer Brechung und damit einhergehender Distanzierung mehrdeutig bleiben (375): „Offenbar hat er sich bewusst dafür entschieden, sich auf dieses politisch aktuelle Feld zu begeben, aber auch dafür, nicht eindeutig Stellung zu beziehen.“ (Das hat u.a. den positiven Effekt, dass erhitzte wissenschaftliche Diskussionen darüber, ob Ovid im Gefolge des Pythagoras als eine Art Protovegetarier oder -veganer gesehen werden kann, vergnügt weitergehen dürfen und im Sinne des Meinungspluralismus und der akademischen Streitkultur die [philologische] Disziplin voranbringen.) Zudem erweist die Verfasserin Ovid als Meister der Gattungsmischung: Polyphems einseitig bleibende Liebe zu Galatea weist Schnittflächen zur (vergilischen) Bukolik auf, ist doch auch der einäugige Riese Hirte – im übrigen ein sehr römischer im Vergleich zu den griechischen Darstellungen. Ovids flirrende Doppelbödigkeit und ebenso psychologisierende wie genderspezifische Darstellung zeigt sich an der bestechenden Gegenüberstellung von Polyphems und Galateas abweichenden, v.a. aber völlig inkompatiblen Sichtweisen auf (gutes) Essen (290–291); daraus resultieren Missverständnisse, die wechselseitiges Verstehen und Verständnis verunmöglichen – und nicht zuletzt sind Bezugspunkte zur Satire vorhanden (372): „Das Gastmahl von Philemon und Baucis ist ein auf die Spitze getriebenes Musterbeispiel römischer frugalitas und pietas, Polyphem ist ein barbarischer Gourmet, Pythagoras ein wütender Moralapostel.“

Zutreffende Zuspitzungen wie diese – allesamt in den „Schlussbemerkungen“, sozusagen der ‚Nachspeise‘ – bleiben in Erinnerung und regen zum Nachdenken über die unzähligen Facetten an, die Peggy Leiverkus in großer Belesenheit und mit Feingefühl für den (Sub)text en détail interpretiert. „Essensdarstellungen in Ovids Metamorphosen“ werden ausschließlich über „Books on Demand, Norderstedt“ geliefert. Dem geschmackvollen Buch ist zu wünschen, dass dieses ‚Lieferservice‘ von möglichst vielen literarisch (und sozial- und kulturhistorisch interessierten) Gourmets in Anspruch genommen werden möge.

[cf. Wiener Studien – Rezensionen 134 (2021), 123-124 =  https://doi.org/10.1553/wst_134]

Sonja Schreiner

Institut für Klassische Philologie, Mittel- und Neulatein
Universität Wien
Universitätsring 1
A-1010 Wien 
https://klassischephilologie.univie.ac.at/ueber-uns/mitarbeiterinnen/neulateinische-philologie/sonja-schreiner/Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
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Leiverkus

Marion Giebel: Julian Apostata, Rede zu Ehren der Kaiserin Eusebia, zweisprachige Ausgabe, Speyer: Kartoffeldruck-Verlag 2021 (Opuscula 1) 100 S., 4, -- €[i]

Kai Brodersen: Symeon Seth, Fabelbuch, griechisch und deutsch, Speyer: Kartoffeldruck-Verlag 2021 (Opuscula 2) 172 S., 6,-- €

Gleich zwei Bücher, aber für einen Preis, für den man normalerweise bei weitem nicht einmal eines bekommt: Kai Brodersen hat sich mit dem von ihm begründeten und betriebenen Kartoffeldruck-Verlag (https://www.kai-brodersen.eu/kartoffeldruck-verlag/) vorgenommen, „zum reinen Selbstkostenpreis – in kleiner Auflage Bücher für Expertinnen und Experten in Altertumswissenschaft und Schule“ zu publizieren und damit Texten eine Leserschaft zu verschaffen, die von kommerziellen Zwängen unterworfenen (Groß)-Verlagen kaum angefasst würden (aber sie sind ganz regulär über den stationären und digitalen Buchhandel erhältlich).

Marion Giebel muss man hier nicht vorstellen (vgl. die Würdigung durch Friedrich Maier im 2019 im Forum Classicum: https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/fc/article/view/64756/57610), ihr Interesse an der Antike erstreckt sich von Homer bis zu Julian (mit dem von der christlichen Tradition verliehenen despektierlichen Beinamen Apostata), dem sie bereits 2002 eine biographische Darstellung gewidmet hatte. Nun befasst sie sich mit der Dankesrede Julians auf Eusebia (ca. 356/357 n.Chr), die als Gattin des Kaisers Constantius II ihn bei seiner politischen Karriere (noch war er allerdings nicht Kaiser) sehr unterstützte.

Das Büchlein weist all die Tugenden auf, die seit jeher die Publikationen Marion Giebels auszeichnen: eine konzise Einleitung, in der sie die Gattung des panegyricus vorstellt, sodann auf die Biographie Julians eingeht sowie speziell seine Beziehung zu Eusebia – all das mit Verweisen auf grundlegende und aktuelle Sekundärliteratur untermauert. Den Hauptteil (S. 15-81( bildet die griechisch-deutsche Rede selbst, wobei die Übersetzung in der von Marion Giebel gewohnten Qualität textnah und verständlich (auch ohne Beiziehung des Originals) ausgefallen ist und durch Anmerkungen unterstützt ist. Es schließt sich ein Anhang mit Parallelzeugnissen (Ammian, Libanios, Zosimos) an, bevor ein dreiseitiges Literaturverzeichnis das Buch beschließt.

Marion Giebels Ausgabe ermöglicht es, zu einem mehr als fairen Preis den Einstieg in eine Epoche zu finden, die viele Studierende und Lehrende der Altertumswissenschaften immer noch leichtfertig beiseitelassen, nicht ahnend, was sie dadurch verpassen. Und wer sich einmal darauf eingelassen hat, der wird womöglich mehr über die Spätantike und das sich anschließende Frühe Mittelalter wissen wollen – vielleicht folgen auf die 100 Seiten Marion Giebel die 1500 Seiten Mischa Meier. Das Julian-Buch also als Einstiegsdroge in die Spätantike – warum nicht?

Kai Brodersen, der Verleger und Reihenherausgeber, seinerseits hat – zu Ehren von Niklas Holzberg und dessen Arbeiten zur antiken Fabel – eine aus dem indisch-iranischen Raum stammende, arabisch überlieferte, im Mittelalter durch den Gelehrten Symeon Seth in byzantinisches Griechisch übersetzte Fabelsammlung aus den Tiefen der Wissensarchive geholt. Diese Wiederentdeckung bereichert das vor allem durch Äsop/Phaedrus geprägte Bild von der antiken Fabel und zeigt, dass es auch außerhalb der äsopische Tradition wichtige und mit Gewinn zu berücksichtigende Formen dieser Gattung gibt. Der Text im Umfang von je ca. achtzig Seiten (griechisch und deutsch, synoptisch angeordnet), verteilt auf zwei Teile, präsentiert einen in eine Rahmenerzählung eingebundenen Fürstenspiegel, in dem die Tiere durchaus nicht nur positiv gezeichnete Abbilder der Menschen sind: ein seiner selbst ungewisser Löwe als König, zwei Schakale als nicht uneigennützige Ratgeber, ein Stier, dem seine Kraft nichts nützt und der letztlich der Angst des Löwen zum Opfer fällt. In diese Haupthandlung eingelegt sind eine ganze Reihe von Exempeln, die vor allem von den Schakalen erzählt werden und die weitere, hierarchisch niedrigere Tiere (manchmal aber auch Menschen) als Handlungsträger haben. Die moralische Botschaft ist alles andere als eindeutig und gerade deshalb sehr reizvoll zu lesen: Es gibt nicht einfach Gut und Böse, Schwarz und Weiß, sondern viele Abschattierungen – und letztlich sind ethische Fragen doch wieder Machtfragen.

Mit der Reihe „Opuscula“ aus dem Kartoffeldruck-Verlag erhält das Publikum die Chance, sich für wenig Geld ein unbekanntes Terrain zu erschließen und wieder einmal festzustellen, welch reiche Schätze die Literatur der Antike und der antiken Tradition enthält – der Blick über den sich immer mehr verengenden Schulkanon hinaus wird vielfach belohnt. Kai Brodersen und Marion Giebel sei dafür herzliche gedankt.

Ulrich Schmitzer (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)

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Michael von Albrecht, Sermones. Satiren zur Gegenwart. Lateinisch und Deutsch. Ars Didactica Bd. 8. Hrsg. von Hans-Joachim Glücklich. Propylaeum: Heidelberg 2021. EUR 36, 90 (ISBN 978-3-96929-026-2)

Michael von Albrecht gilt als einer der profiliertesten Klassischen Philologen im deutschsprachigen Raum. Bekannt ist seine Geschichte der römischen Literatur. Von Andronicus bis Boethius (in mehreren Auflagen erschienen, in zahlreiche Sprachen übersetzt). Allen Studentinnen und Studenten zur Lektüre empfohlen sind die beiden Bücher Meister der römischen Prosa. Von Cato bis Apuleius und Römische Poesie. Texte und Interpretationen (ebenfalls jeweils mehrere Auflagen) sowie einschlägige Publikationen zu Lukrez, Ovid, Seneca und Vergil. Häufig werden dabei auch Rezeptionsdokumente berücksichtigt. Michael von Albrecht ist auch als Übersetzer zahlreicher römischer Autoren aufgetreten. Weniger bekannt ist allerdings, dass er einer der bedeutendsten lebenden Dichter in lateinischer Sprache ist. Er hat Oden, Elegien und Epigramme verfasst, jetzt sind seine Satiren erschienen. Michael von Albrecht hat sich Horaz als Vorbild genommen, denn seine Sermones orientieren sich durch die Wahl der Zehnzahl, ihre Verknüpfung von „moralischer Ernsthaftigkeit und humaner Heiterkeit“ (Michael Lobe, 121) an dem großen augustäischen Dichter. Natürlich kennt er die Meister römischer Satiren, angefangen bei Ennius, der sich mehrerer Versmaße bediente, über Lucilius, der den Hexameter für seine Dichtungen bevorzugte, bis Persius und Iuvenal.

Die Themen der Sermones/Satiren, überwiegend als Dialoge gestaltet, sind vielfältig und aktuell. Die Titel dieser Texte belegen dies: Neugier, Lebensmittelvergeudung, Hunde, Zukunftsforschung, Umwelt, Corona, Waffen, Wahrheit, Nützlichkeit alter Leute sowie Reklame.

Das Besondere an dem angezeigten Buch ist einerseits, dass ein heutiger Dichter sich der lateinischen Sprache bedient. Dies tut er in souveräner Art und Weise, denn viele Begriffe müssen in dieser Sprache neu geschaffen werden, also durch Neologismen. Andererseits liefert er eine Übersetzung ins Deutsche gleich mit. Dass Michael von Albrecht diese Sprache ebenfalls meisterhaft beherrscht, geht aus jedem Vers hervor. Dazu verwendet er den sogenannten Blankvers, der für die deutsche Sprache angemessener ist als der Hexameter.

Im Vorwort betont Hans-Joachim Glücklich, der Herausgeber des Buches, dass Michael von Albrecht „die Rolle eines Zeitbeobachters und Satirikers“ einnimmt (7). Er hat die Fähigkeit, genau hinzusehen, in die Gesellschaft gewissermaßen hineinzuhorchen, seine Beobachtungen klug und witzig zu formulieren, ohne verletzend zu sein. Das gesamte Buch ist ein Plädoyer zum Erlernen der lateinischen Sprache, stellt aber auch einen Anreiz dar, sich mit antiken Themen zu befassen, die bis in die heutige Zeit aktuell sind. „Latein ist eine besonders schöne Sprache, man muss sie nur zum Klingen bringen. Dann versetzen die rhythmischen Verse und ihre Laute den Leser in Schwingungen“ (Hans-Joachim Glücklich, Vorwort 7). 

Ein Textbeispiel mag belegen, wie souverän der Dichter mit den Themen, der lateinischen und der deutschen Sprache umgeht. Am Ende der dritten Satire, in der Michael von Albrecht auch auf Elemente der Fabel zurückgreift, hier in Anlehnung an die berühmte Fabel von der Stadtmaus und der Landmaus (Horaz), beschreibt er ein Hundeparadies. Zitiert werden die letzten Verse, 125-130:

Elysium hoc latrantum ubi sit, si forte requires,
vix animum induces: Clara reperitur in urbe
Afrorum, promunturiis ubi Spes Bona custos.
Africa, sunt populi innumeri tibi, mater, egentes,
Das catulo luxus, homini ieiunia linquis.
O Spesne ulla Bona est, in te quam ponere possim?

Fragst du, wo dieses Hundeparadies
denn sei? Du kommst nicht drauf: In Kapstadt ist’s,
ganz nah am Kap der Guten Hoffnung, Ach!
Gibst Hunden Luxus, Menschen lässt du darben.
Bleibt da ein Plätzchen noch für gute Hoffnung?

Hier stoßen Welten aufeinander, der Dichter wählt ausgerechnet den Gegensatz zwischen einem Hundeparadies und den Townships in Kapstadt. Für Michael Lobe, der die Einführung in die Satiren verfasst hat und eine Gesamtinterpretation liefert (119-127), handelt es sich um eine „dekadente Perversion“, die sich durch rhetorische Brillanz auszeichnet.

In der zweiten Satire, in dem die Lebensmittelvergeudung angeprangert wird, benutzt der Dichter für den Begriff Kaffee caffaea (Sat.II, V.11; es gibt in der neulateinischen Terminologie auch als Übersetzungsvorschläge: potio Arabica, coffeum, coffea). Kaffee gab es in der Antike bekanntlich nicht, und so müssen Neologismen verwendet werden.

In der fünften Satire wird der Umgang der Menschheit mit der Umwelt thematisiert. Dabei geht der Dichter auch auf das Faktum ein, dass viel Plastik in den Weltmeeren landet und der dortigen Tierwelt und damit letztendlich auch dem Menschen großen Schaden zufügt. Plastik ist ein Kunststoff, der in der Antike nicht hergestellt werden konnte. Michael von Albrecht wählt für Plastikmüll den lateinischen Ausdruck plastica materies (Sat. V, V. 41). Es gibt auch die Kombination materia plastica. Bei der Wahl der lateinischen Lexeme ist stets zu bedenken, dass sie in den Hexameter passen müssen.

Ein letztes Beispiel ist der zehnten Satire entnommen. Dort spricht der Dichter über Kühlschränke, die es natürlich in der Antike nicht gab; er benutzt die Kombination: armaria frigida (Sat. X, V. 98). Auch in diesem Fall gelingt es ihm meisterhaft, einen passenden Ausdruck zu finden (möglich wäre auch: armarium frigidarium, apparatus frigorificus oder einfach frigidarium). Aber, wie oben schon erwähnt, muss die Neuschöpfung am Hexameter orientiert sein.

Das Buch hat einen vielfältigen Blick auf verschiedene Leser; solche, die die lateinische Sprache beherrschen, solche, die dankbar sind für eine Übersetzung, und die Leserinnen und Leser, die sich gerne bei der Lektüre anleiten lassen. Dazu dienen einerseits die bereits erwähnte Gesamtinterpretation von Michael Lobe, andererseits die Methodischen Vorschläge zur genussreichen Lektüre der Sermones im Lateinunterricht, die der Herausgeber beisteuert (129-142). Zusätzlich bieten der Dichter und Michael Lobe Hilfen an, um einzelne Textstellen besser einordnen zu können: Adnotationes. Anmerkungen und Erläuterungen zu den Sermones (109-117). Das Verzeichnis der Eigennamen (143-156) stammt vom Dichter höchstpersönlich und belegt ein weiteres Mal seine große Belesenheit und die außergewöhnlichen Kenntnisse der griechisch-römischen Welt.

Michael Lobe sieht in dem Satirenbuch einerseits „ein kritisch-humorvolles Panoptikum unserer Gegenwart, ihrer Probleme, Versäumnisse und Dummheiten“ (121), glaubt andererseits, dass es „durchzogen ist von unaufdringlicher philosophischer Altersweisheit – kulminierend in der achten Satire mit ihrer zentralen Frage nach dem Wesen der Wahrheit“ (121).

Wir können dem Dichter Michael von Albrecht großen Dank aussprechen, dass er uns mit diesen Texten reich beschenkt hat. Sie enthalten viel Anregendes, Kritisches, Nachdenkliches, Witziges und zeichnen sich durch große Virtuosität aus. Dass unser Dichter auch ein ausgezeichneter Musiker und ausgewiesener Kenner der antiken Musik ist soll nicht unerwähnt bleiben. All seine besonderen Fähigkeiten tragen dazu bei, dass er auf ein imposantes Lebenswerk zurückblicken kann.

Rezension: Dietmar Schmitz

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Markus Janka: Vergils Aeneis. Dichter – Werk – Wirkung. München: Beck 2021 (Beck Wissen) 128 S. mit zwei Schaubildern, 9,95 €.

Wie soll man Vergil lehren? Wie findet man zwei Jahrtausende, nachdem er von Q. Caecilius Epirota erstmals auf einen Lehrplan gesetzt wurde, einen adäquaten Zugang, der den Autor und seinen Text ernst nimmt und verständlich macht. Markus Jankas Beitrag zur Aeneis (und eigentlich zum ganzen Vergil) in der Reihe Beck Wissen (die die Autoren in ein strenges Seitenkorsett einpasst) findet darauf mitunter überraschende und zum weiteren Nachdenken im besten Wortsinne provozierende Antworten.

Diese Feststellung gilt vor allem für die ersten Kapitel. Janka setzt nicht – wie die bekannten Einführungen zu Vergil von Giebel bis Holzberg – biographisch ein, sondern mit einer detaillierten, dem Gehalt der einzelnen Wörter nachgehenden Interpretation des Proömiums (Aen. 1,1-11), wodurch Vergil als Erneuerer Homers (nicht sein Nachahmer!) deutlich wird: Vergil ist ein Hyperhomer, das lateinische Epos findet auf diese Weise  einen neuen Zugang zu alten Themen. Das wird im folgenden Kapitel noch ausgebaut, wenn die Aeneis mit den Kategorien der hellenistischen Epik, namentlich der Argonautika des Apollonios Rhodios, begriffen wird und vor allem als Vorwegnahme des carmen perpetuum et deductum (Ovids Selbstcharakterisierung im Metamorphosen-Promömium) erscheint: Die Aeneis ist ein radikal innovatives Werk – und so füge ich hinzu: Es war gerade Vergils Erfolg und seine Kanonisierung in Schule, Bildung und Kultur, der diese radikale Innovation rezeptionsgeschichtlich aus dem Bewusstsein rücken ließ. Es lohnt sich aber nicht nur für die schulische Beschäftigung, diese Dimension wiederzuentdecken.

Zwei weitere grundsätzliche Kapitel schließen sich an: In „Ille ego qui …“ spürt Janka ausgehend vom sog. Vorproömium der Aeneis dem Zusammenhalt von Vergils kanonischen Dichtungen nach und schafft so eine thematisch fokussierte Synopse von Eklogen, Georgica und Aeneis. In „Hic vir … Augustus Caesar“ liest Janka die Aeneis als ein zwar den Prinzipat des Augustus bejahendes, aber nicht panegyrisches Epos, dessen Protagonist Aeneas nicht einfach eine auf Identität abzielende Rückprojektion des historischen Augustus ist.

Der längere zweite Teil des libellus geht die einzelnen Aeneisbücher in einem close reading durch. Die einzelnen Bücher werden durch die jeweilige Zentralgestalt schon in den Überschriften charakterisiert, von Aeneas über Achaemenides und Dido bis hin zu Pallas, Camilla und Turnus: Der Tod des Turnus wird in all seiner Verstörung deutlich gemacht, eine versöhnliche Auflösung erfolgt weder bei Vergil noch bei seinem Interpreten.

Über die Rezeption Vergils von dessen Lebzeiten bis ins 21. Jahrhundert sind ganz Bibliotheken geschrieben und wären noch viele Supplemente zu schreiben. Janka beschränkt sich auf den zur Verfügung stehenden weniger als zwei Seiten darauf, einige Spuren in das späte 20. und frühe 21. Jahrhundert zu legen – eine Erinnerung für den Leser, dass mit dem Ende der Aeneis und Vergils Tod eben bei weitem nicht alles zu Ende ist.

Der durch die Reihe „Beck Wissen“ vorgegebene Umfang erlaubt keine ausführliche Bibliographie. Sie ist auf wenige, essentielle Titel beschränkt, weiteres ist dann ins Internet ausgelagert und kann dort auch prinzipiell immer wieder erweitert werden (https://www.chbeck.de/media/4300/inh_bw2884jankavergilsaeneis_978-3-406-72688-0_1a_literaturhinweise.pdf) – ich vermisse dort eigentlich nur die (in der Forschung notorisch unterbewertete) monumentale Enciclopedia Virgiliana (1984-1990) sowie von Richard Thomas und Jan Ziolkowski ihre fast ebenso monumentale Zusammenstellung „The Virgilian Tradition. The first fifteen hundred years“ (2008). Und vielleicht lässt sich als weiteres Download-Angebot auch noch ein Glossar realisieren, das vor allem der Verwendung durch Schüler in der gymnasialen Oberstufe zugute kommen könnte. Wie sehr der Raum ausgenützt wird, zeigt sich daran, dass sogar die Umschlaginnenseiten verwendet werden, um mit zwei Schemata (zum Aufbau der Aeneis und zur tragischen Struktur der Dido-Erzählung) auch optisch aufbereitetes Material zu präsentieren.

Bleibt mir nur als Fazit: Ich bin beeindruckt, wie der Verfasser ein so in jeder Hinsicht umfangreiches Werk konzentriert in den Griff bekommen hat, es instruktiv aufbereitet und auch dem, der schon oft sich am Vergil versucht hat, neue Anregungen bietet. Und das für weniger als 10 Euro!

Ulrich Schmitzer (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)

Jan Weidauer: Männlichkeit verhandeln: Von Lüstlingen, Kriegern und wahren Römern (1./2. Jh. n. Chr.). Heidelberg: Propylaeum, 2021. Mainzer Althistorische Studien (MAS), Bd. 9. https://doi.org/10.11588/propylaeum.813

Was bedeutet es, ein ,echter Mann‘ zu sein? Diese Frage will Jan Weidauer für die Elite des kaiserzeitlichen Rom beantworten. Seine Studie „Männlichkeit verhandeln“, eine geringfügig überarbeitete Fassung seiner in der Alten Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eingereichten Dissertationsschrift, bietet ein Beispiel für ein zunehmendes Forschungsinteresse an Männern und Männlichkeit in der griechisch-römischen Antike. Die im Open-Access-Format publizierte Studie ist unter dem oben genannten Link dauerhaft frei verfügbar.

Im lesenswerten und klar strukturierten Einleitungskapitel führt Weidauer an Fragestellungen und Konzepte der Geschlechter- und Männlichkeitsforschung heran. Ausgehend von der Vorstellung von Geschlecht als kulturellem Konstrukt setzt er sich u.a. mit den Konzepten der Performativität von Geschlecht (Butler), der hegemonialen Männlichkeit (Connell) und des Habitus (Bourdieu) auseinander und skizziert auf dieser Grundlage seinen eigenen theoretisch-methodischen Zugriff, der sich besonders auf Bourdieu und Butler stützt. Ein nach Bereichen wie Sexualität, Rhetorik, Semantik usw. gegliederter Forschungsüberblick zeigt, inwiefern bereits eine „altertumswissenschaftliche Männlichkeitsforschung“ existiert.

Im diskursanalytischen Hauptteil untersucht Weidauer zuerst die Verspottung in sexueller Hinsicht devianter Männer im „satirischen Diskurs“, den er in Martials Epigrammen und Juvenals Satiren findet. Ergänzt wird diese Perspektive durch einen „ethnischen Diskurs“, wie er sich für Weidauer in den Ausführungen über Germanen bei Tacitus und in Bezugnahmen auf die griechische Athletik im Rhetorikhandbuch Quintilians manifestiert. Vor der Folie hypermaskuliner germanischer Krieger, hyperzivilisierter Graeculi oder dem Spott über effeminierte Männer lässt sich für das kaiserzeitliche Rom eine moralische Konzeption von Männlichkeit erkennen, wobei Selbstbeherrschung (continentia sui) und Leidensfähigkeit (virilis patientia) als Säulen der virtus die Grundlage männlicher Autorität darstellen. Durch entsprechendes Handeln in verschiedenen Lebensbereichen muss sich ein Römer in diesem Sinne als ,echter Mann‘ erweisen und seine Männlichkeit performativ aktualisieren.

Für die Auseinandersetzung mit dem seit Längerem im Zentrum des medialen Interesses stehenden Themas „Männlichkeit“ im altsprachlichen Unterricht bietet Weidauers anregende Studie zahlreiche Impulse.

(Rezension: Petra Schierl)

Cover Weidauer