Neuerscheinung des Monats

Späth, Th. (Hrsg.) (2021), Gesellschaft im Brief. Lire la société dans la lettre. Ciceros Korrespondenz und die Sozialgeschichte/La Correspondance de Cicéron et l’histoire sociale. Collegium Beatus Rhenanus Bd. 9. Franz Steiner Verlag: Stuttgart. 430 S., EUR 72,- (ISBN 978-3-515-13095-0).

Die annähernd 1000 Briefe an und von Cicero bilden ein besonderes Quellenkorpus. Über keine andere Person der Antike gibt es mehr Selbstzeugnisse, die immer wieder Gegenstand der Forschung waren und sind. Vor allem im 19. Jahrhundert wurden die Aussagen in den Briefen Ciceros Textstellen aus anderen Schriften desselben Autors gegenübergestellt und vermeintliche Defizite und Umstimmigkeiten konstatiert. Die Verfasser der Beiträge des zu rezensierenden Bandes wählen einen anderen Zugriff auf die Interpretation der Briefe Ciceros. Im ersten Beitrag (Sozialgeschichte und Ciceros Korrespondenz als Chronotopos, 9-25) versucht der Herausgeber des Bandes, Thomas Späth (S.), in knappen Strichen die Zielsetzung des Buches zu beschreiben. Die Besonderheit liegt darin, dass sich 2009 ungefähr „dreißig AlthistorikerInnen, ArchäologInnen und PhilologInnen (…) der Universitäten Basel, Bern, Freiburg i. Br., Mulhouse und Strasbourg an einer Tagung des Collegium Beatus Rhenanus mit sozialhistorischen Forschungstraditionen auseinander“ (10) gesetzt haben. Daraus entwickelte sich ein Forschungsprojekt, aus dem mehrere Publikationen entstanden. Das Projekt trägt den Titel: „Sozialgeschichte und histoire culturelle: Perspektiven einer neuen römischen Sozialgeschichte – Sozialgeschichte et histoire culturelle: vers une nouvelle histoire sociale de l’Antiquité romaine“ (10). S. erinnert daran, dass die historisch-anthropologischen Ansätze, die seit mehr als sechs Jahrzehnten in Frankreich, Deutschland und Italien existieren, keinen Niederschlag in der traditionellen Sozialgeschichte gefunden haben. Es werden weitere Defizite und Desiderate genannt, an denen das Projekt ansetzt. Betont wird, dass es zu einem produktiven Austausch von Wissenschaftlern verschiedener Länder mit verschiedenen Forschungstraditionen kommt. S. macht darauf aufmerksam, dass der Ausgangspunkt der Analysen der beteiligten Forscher „die gesellschaftlichen Praktiken sind, die auf durch sie konstituierte Gruppierungen von Akteuren genauso wie auf Beziehungen unter ihnen hin ausgewertet werden; diese Praktiken sind in ihren situativen Dispositionen (d. h. in Räumen wie domus oder urbs, historischen Sachlagen wie Konflikten oder Gewalt, kollektiven Rahmen wie Familie oder politischen Strukturen) zu erfassen und auf ihre materiellen und symbolischen Bedingungen (ökonomische und ökologische Voraussetzungen, kollektive Vorstellungen von Identität, Vergangenheit, Geschlecht) zu prüfen“ (11). Die als abstrakte Untersuchungsanlage erarbeitete Matrix wurde von verschiedenen Forschern auf die Briefe Ciceros angewandt. S. erläutert ebenfalls, warum sich gerade das Briefkorpus des berühmten römischen Redners anbot (12-13). Der neue Zugriff auf die Korrespondenz Ciceros kann nach Aussagen von S. „den Blick auf die Zusammenhänge gesellschaftlicher Praktiken öffnen“ (13). Die am Projekt beteiligten Wissenschaftler „formulieren den literaturtheoretischen Begriff des Chronotopos neu für“ ihre „historische Problemstellung“ (14). Des Weiteren stellt S. kurz die drei Kapitel und ihre jeweiligen Beiträge vor. Am Ende des einführenden Aufsatzes finden sich wichtige bibliographische Hinweise, genauso wie es bei den anderen Essays praktiziert wird. Der zweite Beitrag im Einführungsteil stammt von Jürgen von Ungern-Sternberg, der auf die Leistungen von drei Forschern eingeht, die wichtige Stationen in der Tradition der Sozialgeschichte darstellen, nämlich die wissenschaftlichen Leistungen von Gaston Boissier, Matthias Gelzer und Eugen Täubler (Drei Beiträge zu einer römischen Gesellschaftsgeschichte, 27-58). Diese Ausführungen sind sehr lesenswert und informativ, so dass die Leserinnen und Leser die großen Traditionslinien der Sozialgeschichte besser einordnen und auch die neuen Ansätze des Projekts begreifen können.

Danach folgen die drei Kapitel, die jeweils aus vier Beiträgen bestehen. Das erste Kapitel trägt den Titel: Nouveaux objets – Forschungsgegenstände (61-158), das zweite ist folgendermaßen überschrieben: Nouveaux problèmes – Problemstellungen (161-250), die Überschrift des dritten Kapitels lautet: Nouvelles approches – Ansätze (251-402). Am Ende des Buches gibt es Informationen über die Autorinnen und Autoren (403-405), über die Textausgaben, Übersetzungen und Referenzen (407-408); daran schließen sich der Index locorum (409-424) sowie der Index nominum an (425-430). Im Rahmen dieser Rezension ist es nicht möglich auf alle Beiträge näher einzugehen. Daher habe ich einige wenige Aufsätze ausgewählt, die ich einer genaueren Betrachtung unterziehe.

Im ersten Kapitel befassen sich die Analysen mit dem Bild, das Cicero im Briefwechsel mit seinen Partnern bezüglich seiner politisch-gesellschaftlichen Stellung von sich selbst entwirft. Gemäß den Vorgaben des Chronotopos steht die Situierung in Räumen und in der Temporalität „um den metaphorischen Raum der magistratischen Aufgaben im konkreten Raum der Provinz, um die Bedeutung des urbanen Raums, aus dem das Exil den Protagonisten ausschließt, um die Handlungsräume aristokratischen Wohnens und um Beziehung dieser Räume mit der Temporalität der Spannung zwischen Gegenwart und Vergangenheit“ (16) im Vordergrund. Im ersten Beitrag, der aus der Feder von Marianne Coudry (C.) stammt, werden Briefe aus den Jahren 51-50 v. Chr. behandelt, als Cicero Statthalter von Kilikien war; in diesen Briefen konstruiert Cicero das Bild eines exemplarischen Statthalters (La construction de la figure du gouverneur exemplaire, 65-73). Bei der Erstellung eines Selbstbildes ist dem Verfasser der Briefe offensichtlich sehr bewusst, dass neben den „eigentlichen“ Adressaten wie Atticus, Appius Claudius Pulcher, sein Vorgänger im Amt, und die Senatoren „die sekundären Rezipienten zu den impliziten LeserInnen des Schreibenden gehören“ (16); auf diese Weise gelingt es dem homo novus, seine Stellung im sozialen Feld der Senatsaristokratie darzustellen. C. formuliert folgendermaßen, bezogen auf den Brief fam. II 13,2 (81): « Tant le contenu que le ton de cette lettre sont strictement semblables à ceux des lettres que Cicéron adresse lui-même à Appius, et cela laisse penser qu’elle n’était pas destinée au seul Caelius, mais aussi à Appius et sans doute à un cercle plus large, qu’il fallait convaincre du souci qu’avait Cicéron de conserver l’amitié de son prédécesseur » (Sowohl der Inhalt als auch der Ton dieses Briefes sind den Briefen überaus ähnlich, die Cicero selbst an Appius adressiert hat, und dies lässt daran denken, dass der genannte Brief (fam. II 13,2) nicht nur an Caelius gerichtet war, sondern auch an Appius und zweifelsohne an einen größeren Kreis, den er von der Sorge überzeugen musste, die Cicero damit hatte, die Freundschaft zu seinem Vorgänger zu bewahren). Nach C. führt dieses Beispiel zu der Frage der Verteilung dieser Briefe; sie ist davon überzeugt, dass sie in zahlreiche Hände gelangten und mehrmals kopiert wurden. Sie hat den Eindruck, dass man sich in einem Netzwerk befindet, in dem Informationen ausgetauscht wurden, das aber für uns heute weitgehend nicht greifbar, ja sogar hermetisch verschlossen ist (81).

Von großem Interesse sind auch die Ausführungen von Laura Diegel (Selbstbildnisse eines Exilierten. Ich-Narrative Ciceros in den Briefen aus dem Exil und danach, 91-113), die sich vorwiegend den Briefen aus der Zeit des Exils (58-57 v. Chr) widmet. Ein weiterer Beitrag befasst sich mit den Gärten in den Briefen Ciceros und gelangt zu einer veränderten Sicht auf bisher vermeintlich feststehende Erkenntnisse (Ilse Hilbold, Les horti de Rome, «une maison comme les autres»? Pratiques résidentielles aristocratiques dans la correspondance de Cicéron, 115-129). Die zeitliche Dimension im Rahmen des Chronotopos stellt Michel Humm in den Fokus seiner Überlegungen, wenn er das Verhältnis von Sozialbeziehungen und Allusionen auf die römische Geschichte in den Briefen herausarbeitet (Évocations historiques, représentations du passé et autoreprésentation dans la correspondance de Cicéron, 131-158).

Im zweiten Kapitel thematisiert Jan B. Meister das Verhältnis zwischen dem homo novus Cicero und der römischen Aristokratie (161-178). Franziska Reich setzt sich mit dem Faktum auseinander, dass ein Distinktionsmerkmal darin bestand, sich nicht nur literarisch zu betätigen, sondern einen intensiven Austausch von Texten zu pflegen und sich gegenseitig Werke zu widmen (Quod rogas ut mea tibi scripta mittam quae post discessum tuum scripserim : envois littéraires et pratiques de communication dans la correspondance de Cicéron, 179-201). Über Rechtsfragen im Zusammenhang mit familiären Angelegenheiten reflektiert Ann-Cathrin Harder („Wenn wir noch eine res publica hätten…“ – Familie, domus und die Grenzen des pater familias in Ciceros Briefen, 203-221). Im vierten Beitrag stehen Diffamierungen im Vordergrund (Anabelle Thurn, Improbare animum adversari. Invektivisches in Ciceros Reden und Briefen, 223-250).

Das dritte Kapitel umfasst Beiträge, in denen Themen angesprochen werden, die bisher in der Forschung nicht im Zentrum standen, sondern eher marginal behandelt wurden, wenn überhaupt. Im ersten Aufsatz werden medizingeschichtliche Aspekte angesprochen und Fragen der gesellschaftlichen Konsequenzen von Krankheiten thematisiert (Manuela Spurny, Omnia a te data mihi putabo, si te valentem videro – Tiros Beziehung zu Cicero während seiner Krankheitsphasen aus sozial- und medizingeschichtlicher Sicht, 253-280). Die Autorin, Ärztin und Klassische Philologin, hat vor allem die Briefe des sechzehnten Buches der Epistulae ad familiares erforscht, die bis auf eine Ausnahme an Tiro adressiert sind, den Cicero bekanntlich im Jahr 53 v. Chr. aus dem Sklavenstand befreite. Hauptsächlich geht es in vielen behandelten Briefen um den Krankheitszustand Tiros sowie um tagespolitische Fragen. Aus den Angaben dieser Briefe haben Forscher geschlossen, dass Tiro an Malaria gelitten hat. Natürlich ist es schwierig, 2000 Jahre später eine genaue Diagnose abzugeben. Im Falle der Pest, wie sie bei Thukydides beschrieben ist, konnte Karl-Heinz Leven (L.), Medizinhistoriker und Arzt, die Grenzen der Möglichkeiten klar darlegen, noch in der heutigen Zeit klare Diagnosen anhand der Angaben des griechischen Historikers vorzunehmen (K.-H. Leven, Thukydides und die „Pest“ in Athen, in: Medizinhistorisches Journal 26,1991,128-160). Orientiert an den Ausführungen dieses Aufsatzes von L. untersucht M. Spurny (S.) das Briefkorpus Ciceros, um eine sogenannte Verdachtsdiagnose zu präsentieren, die nicht mit einer endgültigen Diagnose verwechselt werden darf. Ich möchte die Ausführungen, die ich für überzeugend halte, nicht bewerten, da ich kein Mediziner bin. Vielmehr ist folgendes zu bedenken: Im weiteren Verlauf ihrer Darlegungen analysiert S. „die Briefe an Tiro im Spiegel antiker Brieftheorie“ (264-269) und klärt „Tiros Verhältnis zu Cicero während seiner Krankheitsphasen“ (269-276). Dabei vermag S. herauszuarbeiten, dass der berühmteste Redner Roms mehrfache Ziele mit seinen Briefen an Tiro verband. Sie waren nicht nur an seinen libertus gerichtet, sondern offensichtlich von vornherein für eine Veröffentlichung vorgesehen. Cicero präsentiert sich einerseits als treusorgender pater familias und stellte sich damit in die Tradition des älteren Cato (Plinius, nat. XXIX 15), andererseits gelang es ihm, sich als idealen Politiker zu zeigen. Auch die Gefühle, die Cicero in den Briefen für Tiro bekundet, sollte man nicht für bare Münze nehmen, was natürlich auch nicht bedeuten soll, „dass er Tiro gegenüber gleichgültig war oder ihn lediglich als wertvollen Helfer im Alltag betrachtete“ (277/278). S. hat auf wichtige Sekundärliteratur zurückgegriffen, sie hätte mit Gewinn auch das Lexikon von L. heranziehen können (K.-H. Leven, Antike Medizin. Ein Lexikon. München 2005). Im nächsten Beitrag geht Simone Berger Battegay (B.) einem Sujet nach, das in der bisherigen Forschung immer wieder untersucht wurde, nämlich Ciceros Meinung über die Griechen (Dies., Cicero, die Griechen und das Fremde in mikrogeschichtlicher Perspektive, 281-313). Der traditionellen Haltung, die darin bestand den Nachweis zu erbringen, dass Cicero entweder eine negative oder eine positive Position gegenüber den Griechen einnahm, setzt B. einen neuen Ansatz entgegen, nämlich den Briefen Ciceros mit Hilfe einer mikrohistorischen Lektüre näher auf den Grund zu gehen. Sie nimmt zunächst Stellung zu den Ergebnissen der älteren Forschung (282-286), um dann ihren Zugriff vorzustellen und den Leserinnen und Lesern zu erläutern. Ein Vorteil bei dieser Methode ist sicherlich, dass nicht wie bisher auf die Leistungen bedeutender Individuen geschaut wird, sondern dass Aspekte „der unbedeutenden Seite des Lebens“ beachtet werden (287). Diese Individuen waren ebenfalls an der Gestaltung der historischen Wirklichkeit beteiligt und verdienen Aufmerksamkeit. B. erklärt den methodischen Zugriff folgendermaßen: „Um diesen epistemologischen Anspruch zu erfüllen, verkleinern die Mikrohistorikerinnen und -historiker den historischen Ausschnitt geographisch, personenbezogen und/oder zeitlich. Sie betrachten das so abgesteckte Feld gleichsam durch eine Vergrößerungslinse und richten ihre Untersuchung auf die lebensweltliche Ebene des Wahrnehmungsradius der einzelnen historischen Subjekte“ (287). Die letzten beiden Aufsätze stellen einmal das Thema Trauer (Susanne Froehlich, Zerrissen Fäden? Der Austausch über Trauerfälle und die Komplexität des sozialen Netzwerks in Ciceros Briefen, 315-344), dann Geschlechterfragen (Th. Späth, Geschlecht und Epistolographie. Männlichkeit in Ciceros Briefen des Sommers 44, 345-402) in den Vordergrund.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Autorinnen und Autoren auf aktuelle theoretische und methodologische Ansätze der historischen Anthropologie zurückgreifen und dadurch die Möglichkeit schaffen, die römische Sozialgeschichte unter neuen Blickwinkeln weiterzuentwickeln. Hervorzuheben ist die intensive Kooperation unter den deutsch- und französischsprachigen Forschern der Universitäten im Raum Basel, Freiburg/Br., Mulhouse und Strasbourg. So gelingt es ein vielfältiges Bild des gesellschaftlichen Alltags im 1. Jahrhundert v. Chr. zu entwerfen.

Rezensent: Dietmar Schmitz

GraphikSpath

John Scheid mit Milan Melocco / Nicolas Guillerat: Rom verstehen. Das Römische Reich in Infografiken. Aus dem Französischen von Martin Bayer. München: dtv 22022, 128 S., 26,-- €

Wer von uns, die wir uns in Schule, Universität oder sonstwo professionell mit der Antike befassen, hätte sich nicht schon einmal gewünscht, Rom wirklich zu verstehen. Eine neue Publikation aus dem Hause dtv, die entfernt an die früheren dtv- Atlanten (zur Philosophie, zur Geschichte etc.) erinnert, aber im Format auf ein mehrfaches Volumen gewachsen ist), verspricht ein solches Verstehen zu vermitteln.

Das Buch besteht aus drei Hauptkapiteln: „Gebiet und Bevölkerung des Römischen Reichs“ (9-33), „Verwaltung, Verehrung, Versorgung“ (35-73, gemeint ist eher „Kult“ oder „Religion“, aber dann wäre der Mittelteil des Trikolons gestört), „Die römische Militärmacht“ (72-125, was auch das Titelbild, dem ein römischer Militärhelm zugrunde liegt, prägt). Es ist klar, dass vormoderne Quellenarmut bzw. die selektive Wahrnehmung in diesen Quellen (etwa, dass bei den Einwohner- und Steuerzählungen Frauen, Kinder, Sklaven nicht erschienen) per se zu weniger zuverlässigen Zahlen führen, als wir Heutigen das aus den Medien gewohnt sind und auch als die Darbietung im Buch suggeriert (das ist gewissermaßen die warnenden Generalklausel), dennoch sind die hier vorgelegten Resultate unter diesen Prämissen eindrucksvoll und durchaus erhellend.

So erfährt man jeweils in Zahlen und veranschaulichenden Graphiken, dass das römische Territorium von 983 km2 am Ende des 6. Jahrhunderts auf 160 000 km2 im Jahr 90 v.Chr. anwuchs. Parallel dazu stieg die Gesamtbevölkerung der römisch beherrschten Gebiete von 3,5 Millionen 250 v.Chr. auf 46 Millionen 200 n.Chr. (12-13: die komplexe Graphik ist hier besonders erhellend), während Rom selbst im 3. Jahrhundert n.Chr. 1,75 Millionen Einwohner erreichte (wie die Zahlen erhoben werden, wird nicht erörtert, vgl. aber die knappe, doch erhellende und differenzierende Darstellung bei F. Kolb, Das antike Rom, München 22009, Register s.v. Einwohnerzahl). Eine ganze Seite (17) ist den unterschiedlichen Gebäudetypen in den römischen Stadtregionen gewidmet, was als bloßer Text sicher nicht so instruktiv ausgefallen wäre.

So könnte man nun die einzelnen Abschnitte durchgehen, aber das ist eigentlich gar nicht nötig. Wer solche graphischen Darstellungen als hilfreich schätzt, findet hier reiches Material und wird gewiss an so mancher Stelle länger verweilen. So ist für mich die Graphik mit dem jeweils ersten Auftreten der Götter in Rom durchaus erhellend (54-55), während man die zeichnerische Darstellung der römischen Innenstadt und ihrer Monumente (18-19) so oder so ähnlich schon oft gesehen hat. Hilfreich sind auch die geographisch-quantifizierenden Angaben über die Verteilung und Entwicklung der Religionen im Imperium Romanum oder (etwas überraschend unmittelbar anschließend) der Wirtschaft und des Handels.

Wen die römischen Legionen faszinieren, der findet etwa Angaben über das jeweilige Aufstellungsjahr und die Zahl der Feldzüge und sogar über die Abzeichen, über die Schlachtordnungen und Kampftaktiken im Lauf der Jahrhunderte (z.B. zu Cannae und Zama), über die Wege und Aufenthaltsorte von Caesars Legionen in Gallien etc. etc. Oder mit einem Wort: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Und wer das Buch richtig zu benutzen weiß und sich über die nicht immer stabile Faktengrundlage im Klaren ist, kann für die Lehre und die eigene Belehrung eine Reihe von nutzbringenden Informationen (mitsamt deren graphischer Aufarbeitung) gewinnen.

Das Buch kann seine französische Herkunft (zuerst: Paris 2020) nicht verleugnen: Halbwegs unproblematisch ist die relativ prominente Stellung Galliens (32-33: „Mosaik der Stämme“, womit die gallischen Stämme gemeint sind), denn auch hierzulande liest man ja Caesars Bellum Gallicum (vgl. 119-123) und kennt das römische Trauma der Besetzung des Kapitols durch die gallischen Senonen. Aber die Bibliographie, die ausschließlich aus französischen und englischsprachigen Titeln besteht hätte doch ein wenig redaktionelle Anstrengung verdient gehabt, um die Weiterarbeit zu erleichtern und auch die deutschsprachige Forschungsleistung zu würdigen und dem Zielpublikum entgegenzukommen (dass selbst Ronald Symes Roman Revolution in der französischen Übersetzung angeführt ist, lässt sich nur mit verlegerischer Bequemlichkeit rechtfertigen).

Ulrich Schmitzer (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)

Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Direktion Rheinisches Landesmuseum Trier in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum Simeonsstift Trier und dem Museum am Dom Trier (Hrsg.), Der Untergang des römischen Reiches. Katalog zur großen Landesausstellung in Trier vom 25.06 bis 27.11.2022. 465 S. WBG Theis: Darmstadt 2022. EUR 40,- (Buchhandelspreis)/WBG für Mitglieder: EUR 32,- (ISBN: 978-3-8062-4425-0 [Buchhandelsausgabe]; ISBN: 978-3-944371-16-0 [Museumsausgabe]; Kaufpreis in den Museen: EUR 29,90.).

Die drei Museen inTrier: das Rheinische Landesmuseum, das Stadtmuseum Simeonsstift und das Museum am Dom haben wieder einmal vorzüglich kooperiert und eine besondere Landesausstellung organisiert. Im Jahr 2007 haben sie eine Römerausstellung zu Kaiser Konstantin dem Großen angeboten, 2016 zu Kaiser Nero, und jetzt im Jahr 2022 zum „Untergang des Römischen Reiches“ (vom 25. Juni bis 27. November 2022). Der Generaldirektorin Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Heike Otto, sowie dem Direktor des Rheinischen Landesmuseum Trier, Marcus Reuter, ist beizupflichten, wenn sie mit voller Berechtigung im Grußwort feststellendass „kaum ein Ort in Mitteleuropa für ein solches Ausstellungsprojekt geeignetere Rahmenbedingungen bietet als Trier, das mit seinem reichen spätantiken Erbe noch heute beeindruckt.“ Ehrlicherweise müsste der Titel ergänzt werden und lauten: Der Untergang des Römischen Reiches im Westen, denn bekanntlich hat das oströmische Reich den Zusammenbruch des weströmischen Kaisertums überdauert und hörte erst 1453 mit der Eroberung Konstantinopels durch Sultan Mehmed II. auf zu existieren. Den Herausgebern des Katalogs ist es gelungen, namhafte Forscherinnen und Forscher für die Abfassung von Beiträgen zu gewinnen. Über das Thema: Der Untergang des Römischen Reiches gibt es seit vielen Jahren intensive Diskussionen, die bis heute anhalten. Einen entscheidenden Anstoß für die Debatte, wann das römische Reich verfallen und untergegangen ist, bot Edward Gibbon mit seinem Werk The HistoryoftheDecline and Fall ofthe Roman Empire, London 1766-1788. Wer sich für diese Thematik interessiert, wird in verschiedenen Aufsätzen umfassend informiert. Bevor ich auf einzelne Beiträge näher eingehe, mögen einige Informationen zum Aufbau des Katalogs gestattet sein. Er besteht aus drei Teilen, die sich gegenseitig ergänzen. Der erste Teil bezieht sich auf Objekte, die im Rheinischen Landesmuseum Trier ausgestellt sind, der zweite auf solche, die die Besucherinnen und Besucher im StadtmuseumSimeonsstiftvorfinden, der dritte auf Gegenstände, die im Museum am Dom eingehend besichtigt werden können. 

Bereits im Prolog bietet Marcus Reuter Grundsätzliches zum Thema ‚Untergang‘(14-19). Alle weiteren Beiträge sind ähnlich aufgebaut wie dieser. Die meist kurzen Textpassagen werden durch Bildmaterialien unterstützt. Knappe Angaben zum Gegenstand selbst werden angeboten, und wenn er Aufnahme in der Ausstellung fand, wird über die Katalognummer informiert. Des Weiteren gibt es am Ende des Aufsatzes jeweils einen Abbildungsnachweis und Anmerkungen. Aus Platzgründen wird nur der Name des Autors und das Publikationsjahr angeführt, wer nähere Informationen zum genauen Titel und Erscheinungsort erhalten möchte, schaut im sehr umfangreichen Anhang in der Rubrik: Literatur nach (420-450). Im Artikel von M. Reuter – wie auch in weiteren Beiträgen – werden Faktoren genannt, die den Untergang begünstigten; vermieden werden dabei verständlicherweise Hinweise auf eine Monokausalität. M. Reuter zählt einige Gründe für den Untergang auf, die jeweils einen gewissen Anteil an der historischen Entwicklung hatten. Durch das Mehrkaisertum waren Bürgerkriege entstanden, aufgrund der katastrophalen innenpolitischen Lage brachen die Steuereinnahmen weg (17), es lassen sich Plünderungszüge auswärtiger Gruppen beobachten; die angebliche Dekadenz des Zeitalters, die Völkerwanderung, Transformationsvorgänge, Krankheiten wie die Pest und die Bleivergiftung wurden als Faktoren genannt. M. Reuter hat wahrscheinlich Recht mit seiner Vermutung, dass „es ungewiss bleibt, ob das Rätsel um den Fall Roms jemals endgültig gelöst werden kann“ (17). Es geht aber nicht nur um wichtige historische Prozesse und Ereignisse, sondern die Ausstellung zeigt an ausgewählten Beispielen, „welche kulturellen Auswirkungen das politische und militärische Ende Westroms für das Alltagsleben der damaligen Menschen hatte“ (17). 

Im zweiten Abschnitt bietet Stefan Rebenich einen Überblick über die Theorien zum Untergang des Römischen Reiches seit 1500 Jahren (22-27). Sehr umfangreich ist der der dritte Abschnitt: Historischer Überblick (3-129). Um die Entwicklung im fünftenund sechsten Jahrhundert einordnen zu können, ist es ratsam, die Geschehnisse des dritten und vierten Jahrhunderts jeweils zu beleuchten. Das leisten mehrere Autoren; der Kölner Althistoriker Werner Eck wendet sich zum Beispiel der politisch-militärischen Neustrukturierung unter den Kaisern Diokletian und Konstantin (284-337) zu (36-41). Lothar Schwinden stellt die Usurpationen im vierten und fünften Jahrhundert in den Fokus seiner Betrachtungen (42-63). Hilfreich sind dabei einerseits eine tabellarische Übersicht über die Usurpatoren (47), andererseits aufschlussreiche Karten zu den kriegerischen Auseinandersetzungen in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts, zu denen in der Zeit der Kaiser Honorius und Arcadius sowie zu den Auseinandersetzungen in der Epoche von Valentinian III. bis zum Ende des Weströmischen Reiches [424-476 n. Chr.] (56-63).Bruno Bleckmann prüft subtil, ob im Jahre 395 n. Chr. wirklich eine endgültige Teilung des Reiches vollzogen wurde – wie es in der Forschung oft dargestellt wird; er vertritt die Auffassung, dass das genannte Jahr in der Tat ein besonders wichtiges Datum im Zusammenhang mit dem Zerfall der Reichseinheit ist, aber: „Das Datum muss in eine Serie anderer wichtiger Zäsuren und Entscheidungen eingeordnet werden, deren Zusammenschau einen sich über mehrere Jahrhunderte erstreckenden Prozess beschreibt. Reichsteilungen, darunter auch solche, die zu einem Ost-West-Gegensatz führten, gab es schon vor 395, Gemeinsamkeiten blieben nach 395 bestehen“ (87). Timo Stickler analysiert den Putsch des Odoakerund stellt die Frage, ob 476 n. Chr. wirklich das Ende des Imperiums anzusetzen ist (118-123). Er gibt zu bedenken, dass eine letzte Stabilisierung des spätantiken Italienunter Theoderich dem Großen (489-526 n.Chr.) zu beobachten ist (119-121). T. Stickler sieht das traditionell angegebene Datum 476 n.Chr. als problematisch an, „denn der letzte, von Konstantinopel legitimierte Kaiser Iulius Nepos starb ja erst fast vier Jahre später, und die Reihe der oströmischen, später byzantinischen Kaiser setzte sich bis zur Schwelle der Neuzeit, 1453, fort“ (121). Für Andreas Goltz endete das weströmische Reich im sechsten Jahrhundert (124-129).Er konstatiert: „Der Niedergang oder, wie es in Teilen der modernen Forschung wohlwollender heißt, die Transformation des Weströmischen Reiches war ein langfristiger, komplexer, regional und zeitlich divergierender, von Veränderungen wie Kontinuitäten geprägter Prozess“ (125). A. Goltz sieht im Einfall der Langobarden in Italien 568 einen entscheidenden Einschnitt, wodurch die Apenninenhalbinsel eine „territoriale, politische und kulturelle Zersplitterung“ erfuhr (129). Er vertritt die Auffassung, das Ende des sechsten Jahrhunderts in Italien „das ‚Epochenpendel’ endgültig in Richtung Frühmittelalter ausgeschlagen hatte“ (129). 

Der Titel des vierten Kapitels lautet: Brüche – Transformationen – Kontinuitäten (132-241). Hier sind einige Beiträge versammelt, die ganz unterschiedliche Aspekte beleuchten. Fleur Kemmers etwa widmet sich dem Wert der Münzen. Man erfährt als Leser Details über die Prägestätten (moneta), über das Ende der Kleingeldproduktion und welche Konsequenzen sich aus den großen Änderungen in der Münzproduktion für den Umgang mit Münzen und Geld im Alltag ergaben (138-143). Im nächsten Beitrag stellt Christian Witschel seine Forschungsergebnisse zur spätantiken Stadtentwicklung im Westen des römischen Reiches vor (144-149). Erkann belegen, dass viele Städte in der in Frage stehenden Epoche noch lebensfähige politische, wirtschaftliche und religiöse Zentren waren (149). Weitere Themen dieses Kapitels sind die römischen Straßen, die Gladiatorenkämpfe, ländliche Siedlungsstrukturen, der Handel, die Keramikproduktion, die Sprache und die Sprachen, die Stellung des römischen Rechts, Kirchenschätze und Großbauten in Trier im fünften Jahrhundert sowie die Kleidung. 

Im fünften Abschnitt werden nochmals Faktoren, die zum Untergang beitrugen (244-269) ausgewählt. Vor allem der Beitrag von Mischa Meier ist aufschlussreich: Der Untergang des Römischen Reiches und die Völkerwanderung (254-261). Er ist besonders prädestiniert, diesen Zusammenhang zu erhellen. Von ihm stammt das schon zu einem Standardwerk avancierte Buch: Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr. (München 2019). M. Meier bezweifelt, dass klar ist, was unter den Begriffen ‚Völkerwanderung‘ und ‚Barbaren‘ genau zu verstehen ist. Daher präsentiert er seine Vorstellungen der beiden Begriffe. Darüber hinaus sieht er vielfältige Ursachen für den Untergang Westroms (258-261).

Der sechste Abschnitt geht der Frage nach: Warum ging das römische Reich unter(272-289). Dabei kommen bedeutende Historiker wie Walter Pohl, Roland Steinacher und Peter Heather zu Wort.

Im siebten Abschnitt: Katalog (292-319) sind zahlreiche Objekte abgebildet; die Fotos sind von sehr hoher Qualität, so dass sogar Details von Münzen gut erkennbar sind

Das achte Kapitel vereinigt Beiträge, die das Christentum und den Rhein-Mosel-Raum, vor allem die Stadt Trier, in das Zentrum stellen. Orte des Glaubens wie die verschiedenen Kirchen in Trier werden ebenso thematisiert wie das Wirken der frühen Bischöfe in Trier, aber auch die Rolle und die Bedeutung alter Kulte. Die hier besprochenen Objekte finden die Besucherinnen und Besucher im Museum am Dom Trier.

Im neunten Kapitel werden Themenbereiche vorgestellt, die im Stadtmuseum Simeonsstift eine bedeutende Rolle spielen: Das Erbe Roms. Visionen und Mythen in der Kunst (360-409). Dabei wird der Blick auf die Herrscher im Mittelalter gelenkt, auf die Ruinen, die die Antike „überlebt“ haben; weitere Aspekte sind Der Untergang Roms in der Literatur (398-403) sowie Rom und der Untergang des Römischen Reiches als Filmtopos (404-409). 

Insgesamt liegt ein sehr gut konzipierter Band vor, der viele Informationen zum Thema liefert. Die zahlreichen Beiträge bieten ein großes Spektrum an Aspekten, die beim Untergang des römischen Reiches eine Rolle spielten. Mit Hilfe dieser Beiträge lassen sich die Ausstellungsobjekte besser einordnen. Der Band ist mit großer Akribie lektoriert, die Bildmaterialien ausgezeichnet präsentiert. Denjenigen, die die Ausstellung in Trier besuchen wollen, sei empfohlen, den Band vorher durchzuarbeiten, um so die Möglichkeit zu haben, sich auf bestimmte Objekte zu konzentrieren. Die Lektüre des Buches ist für jeden eine Bereicherung, der sich für Fragen des Untergangs des römischen Reiches interessiert.

Rezensent: Dietmar Schmitz

Günther E. Thüry: Römer, Mythen, Vorurteile. Das alte Rom und die Macht.  Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2022, 112 S. mit 58 farb. und 13 s/w Abb, 32,-- € (Mitglieder: 25,60 €)

Mit einem klassischen Trikolon (seit C.W. Ceram, Götter, Gräber und Gelehrte von 1949) betitelt Günther E. Thüry sein neuestes (wenn ich richtig gezählt habe: zwölftes) Buch, das auf überschaubarem Raum und umfangreich bebildert sich vor allem der Frage nach dem kriegerischen und – wie man neuerdings sagt – toxisch-männlichen Rom zuwendet.

Man könnte Günther Thüry vielleicht als einen „Von-der-Seite-Denker“ charakterisieren (leider ist die Zusammensetzung mit „Quer-“ ja durch unappetitliche Aktivitäten sozusagen verbrannt, sonst würde ich diese Bezeichnung wählen). Seine Untersuchungen zum römischen Müll und Abfall, die Rehabilitierung des garum oder jüngst im Gymnasium (129, 2022, 143-163) zum erotischen Wortschatz auf römischen Fibeln nähern sich den antiken Gegenständen auf ungewohnten Wegen, Seitenpfaden gewissermaßen, finden überraschende Perspektiven und sind dann auch für die zunächst vielleicht verwunderten Leser:innen überaus erhellend (beispielsweise versteht man die Literatursprache der römischen Liebeselegie besser, wenn man sie mit den Alltagstexten auf den Fibeln zusammenbringt).

In Römer, Mythen, Vorurteile möchte Thüry die (klassischen) Römer und das Imperium Romanum von einigen weniger in den Altertumswissenschaften (auch wenn einige Altertumswissenschaftler genannt werden) als eher in einer breiteren Öffentlichkeit anzutreffenden Fehlwahrnehmungen befreien. Ausführlich befasst sich so der erste Teil („Herrschsucht ohne Ende?“, 11-30) mit der kriegerischen Expansion des römischen Territoriums, die er als weitgehend von defensiven Motiven getragen einstuft (Ausnahmen wie die gleichzeitigen Zerstörungen Karthagos und Korinths werden aber nicht verschwiegen) und sich dabei auf die römische Auffassung vom bellum iustum (und die einschlägige Dissertation von Sigrid Albert von 1978, gedr. 1980) stützt. Die sich über drei Seiten erstreckende Tabelle (von der Gründung Roms bis zu Octavians Sieg über Antonius und Kleopatra) mit Ereignisse und jeweiligen Kriegsgründen lässt Thürys Auffassung sehr deutlich werden, allerdings ist zu bedenken, dass wir nur die Sicht der Sieger haben, dass eine punische oder gallische Geschichtsschreibung beispielsweise fehlt. Im Grunde genommen buchstabiert Thüry aus, was Cicero in De re publica dem Laelius über den Zusammenhang von gerechtem Krieg und Ausweitung der römischen Herrschaft in den Mund legt. So wird auch exemplarisch deutlich, dass Thüry kein romkritisches, sondern ein affirmatives Buch geschrieben hat und auch schreiben wollte.

Organisch schließt sich das Kapitel Herrschaft durch Unterdrückung? (31-54) an, wo er herausarbeitet, dass das Imperium Romanum kein Vorläufer neuzeitlicher Kolonialreiche war, sondern durch seine Integrationskraft gerade ab dem Beginn der Kaiserzeit für die zuvor unterworfenen Völker so attraktiv wurde, dass sie sich an die römische Zivilisation und Kultur anschlossen und sich eher romanisierten denn romanisiert wurden. Dabei gingen aber auch die eigenen lokalen Traditionen (etwa in der Religion) nicht verloren, sondern lassen sich in zahlreichen archäologischen Zeugnissen noch wiederfinden. Auch wenn sich Thüry in der Einleitung gegen manche aktuellen Trends der historischen Wissenschaften verwahrt (10), lässt sich komplementär auf die amerikanische, ihrer südasiatischen Wurzeln bewusste Altertumswissenschaftlerin Nandini Pandey (Johns Hopkins University) und ihr Projekt zu „Roman Diversity“ (https://tinyurl.com/2s3r28wy) anführen, das mit dem Instrumentarium der Postcolonial Studies die multiethnische Struktur des Römischen Reiches untersucht – es lohnt sich also genau hinzusehen, ob man nicht unerwartete Verbündete gewinnen kann und die modernen Theorien nicht doch hilfreich sind.

Die beiden letzten Kapitel (Der Krieg in den Genen?, 55-65; Weinen echte Römer nicht?, 66-95) stellen die vor allem in Filmen, Romanen und auch Reenactment-Events verbreitete Auffassung in Frage, dass die Römer von Natur aus nur auf Krieg gesinnt seien und geradezu einen ubiquitären Männlichkeitskult gepflegt hätten. Auch das kann Thüry sehr plausibel differenzieren und etwa auf die deutlich geringere Zahl von unter Waffen stehenden Soldaten als in modernen Staaten verweisen oder auf seit dem Principat entstehenden Friedenstexte (wie Tibull 1,10) und Friedensmonumente wie die Ara Pacis Augustae verweisen. Zur ganzen Wahrheit aber gehört hier auch, dass Ovids Beschreibung der Ara Pacis am Ende des ersten Fasti-Buches gerade den Zusammenhang von freiwilliger oder erzwungener Unterwerfung fremder Völker und römischem Frieden herausstellt und damit gewiss eine in Rom verbreitete Auffassung trifft.

Auch dass nicht alle Römer stets martialisch und gewalttätig waren, können die lateinischen elegischen Dichtungen ebenso ad oculos demonstrieren wie die pädagogischen Ratschläge eines Seneca oder Quintilian, allerdings steht bei Letzteren zu befürchten, dass im schulischen Alltag doch eher der plagosus Orbilius denn die quintilianische Reformpädagogik anzutreffen war. Auch hier noch ein ergänzender Hinweis darauf, dass aktuelle kulturwissenschaftliche Theorien nicht einfach abgelehnt werden sollten, sondern komplementär beigezogen werden können: Die Gender Studies haben ja auch das Männlichkeitsbild ins Auge gefasst, im Jahrgang 2021 des Gymnasium waren zwei Hefte (verantwortet von Petra Schierl, Basel/München) den antiken Männerbildern gewidmet – und das mit sowohl plausiblen als auch eindrucksvollen Ergebnissen. Wenn man also gegen Pauschalisierungen anschreibt, und das mit Recht, dann sollte man auch selbst Pauschalisierungen vermeiden.

Alles in allem ist Günther Thüry ein Buch gelungen, das so manche außerhalb der Klassischen Altertumswissenschaft und der Altphilologie verbreitete Vorurteile erschüttert – und es ist zu hoffen, dass es in diesen Kreisen auch gelesen wird (die Buchshops in Museen und Ausstellungen könnten hierfür eine gute Plattform sein). Darüber hinaus lässt es sich durch die Kürze und Klarheit der Argumentation auch sinnvoll im schulischen und sogar universitären Unterricht einsetzen. Dass das Buch auch Widerspruch provoziert, ist klar und ein gutes Zeichen, denn nur so kann die Diskussion weitergehen und die Antike lebendig gehalten werden.

Und schließlich: Thürys Buch lässt sich auch gut als Kontrast zum sehr skeptisch-kritischen Buch von Armin Eich, Die Verurteilung des Krieges in der antiken Literatur lesen, das jüngst in dieser Rubrik vorgestellt wurde. Man kann sehr instruktiv sehen, welche unterschiedlichen Folgerungen man aus den antiken Texten und Bildern ziehen kann – und wie man immer wieder das eigene Urteil auf den Prüfstand stellen muss.

Ulrich Schmitzer (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)

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Zenk, J. (2021), Die Anfänge Roms erzählen. Zur literarischen Technik in der ersten Pentade von Livius‘ ‚Ab urbe condita‘. Göttinger Forum für Altertumswissenschaft – Beihefte Neue Folge, Bd. 12. De Gruyter: Göttingen. 356 S. EUR 109,95 (ISBN 978-3-11-075803-0).

Johannes Zenk befasst sich mit dem Geschichtswerk des Livius, dem M. von Albrecht in seiner Literaturgeschichte „allgemeine Beliebtheit“ in der Rezeption attestiert. Zahlreiche Historiker, Rhetoriker und Autoren anderer Gattungen verschiedener Epochen loben Aspekte seines Oeuvres (M. von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur. Von Andronicus bis Boethius und ihr Fortwirken. Bd. 1. Bern 1992, 682 (jetzt auch in der 3., verbesserten und erweiterten Auflage, Berlin/Boston 2012)). Bei der Studie, die Zenk vorlegt, handelt sich um eine Dissertation, die unter der Ägide von Markus Schauer (Universität Bamberg) entstanden ist. Im Vorwort spricht der Verfasser von seiner Begeisterung für Livius, die schon während seines Studiums geweckt worden sei. Dieser Enthusiasmus durchzieht in positiver Art und Weise die gesamte Publikation.

Das Buch besteht aus drei Kapiteln; in der Einleitung und Zielsetzung (Kap. 1) beschreibt Zenk klar umrissen die Fragestellung, legt einen Forschungsbericht vor und erläutert sein methodisches Vorgehen (1-35). Das zweite Kapitel ist das bei weitem umfangreichste und trägt den Titel: Die Romdarstellung aus primär textimmanenter Perspektive (36-328). Im dritten Kapitel fasst Zenk seine Überlegungen zusammen: Fazit (329-336). Daran schließen sich das Abkürzungsverzeichnis (337), das Literaturverzeichnis (338-351, dazu später mehr), der Sachindex (Stellen in Auswahl, 351-352) sowie der Stellenindex an (353-356).

Zu Beginn der Einleitung skizziert Zenk den historischen Hintergrund der Entstehungszeit von ab urbe condita. Kurz nach der Schlacht von Actium (31 v.Chr.) hat der römische Geschichtsschreiber Titus Livius begonnen, sein umfangreiches Werk zu verfassen. Es umfasst 142 Bücher, die leider nicht alle überliefert sind und bis zum Jahr 12 bzw. 17 n.Chr. reichen, je nachdem wann man den Tod des Historikers ansetzt. Zenk geht in gebotener Kürze auf die wichtigsten Entscheidungen von Octavian/Augustus und auf Ehrungen ein, wie zum Beispiel den Tugendschild, der ihm aufgrund verschiedener Tugenden verliehen wurde: virtus, clementia, iustitia, pietas. Aus Sicht des Livius entstanden diese Tugenden in den ersten Jahren der römischen Geschichte, deren Genese der Historiker mittels Aitien und Exempla genau erläutert. Auf diese Aspekte geht Zenk im Verlauf seiner Arbeit immer wieder ein. Er legt sich bei der Frage der exakten Entstehungszeit der ersten Pentade nicht genau fest, naheliegend für ihn ist aber als spätestes Datum 25 v. Chr, d. h. konkret, dass die Entstehungszeit „nicht mit der späteren augusteischen Friedenszeit gleichgesetzt werden“ (3) sollte, sondern in einer Phase anzusetzen ist, die zwar nach dem Ende der Bürgerkriege zu datieren ist, aber noch geprägt war von einer gewissen Unsicherheit, ob Frieden Bestand haben würde. Zenk geht auf zahlreiche Fragen der Forschung ein, die hier natürlich nicht alle genannt werden können. Ob Livius Anhänger des Augustus oder Republikaner war, möchte Zenk nicht entscheiden. Er verweist mit voller Berechtigung darauf, dass „die zeitgeschichtlichen Bücher des Livius“ nicht erhalten sind (3). Zenk erinnert auch daran, dass R. von Haehling in seinem Werk nach genauer Prüfung betont, dass unser Historiker den Princeps Augustus nicht vorbehaltlos überhöht (3).

Zenk geht auch auf die Frage ein, auf welche Quellen sich Livius gestützt hat. Nachweislich waren die Publikationen der jüngeren Annalistik die entscheidenden Quellen für sein Geschichtswerk (7). Livius schreibt über die Frühgeschichte, und zwar aus gesamtrömischer Sichtweise. Dies ist etwas Besonderes (7): „Livius stellt sich damit in die Tradition der Autoren, die Gesamtgeschichten verfassen, obwohl diese zum Ende des ersten Jahrhunderts zugunsten von zeitgenössischen Werken wie beispielsweise den Historien von Sallust und historischen Monographien (…) aufgegeben wurde.“ (7)

Zenk thematisiert auch die von der Forschung oft aufgeworfene Frage nach der Einteilung des Gesamtwerks. Manche sprechen von Pentaden, andere von Dekaden, wieder andere sogar von Pentekaidekaden (11). Unstrittig ist der Einschnitt nach dem Buch 5 (wegen des Binnenproöms); in den Büchern 6 bis 15 steht die Eroberung Italiens im Vordergrund, d.h. die zweite und dritte Pentade gehören inhaltlich eng zusammen. Nach eingehender Analyse glaubt Zenk beweisen zu können, dass die praefatio und die erste Pentade als Einheit zu betrachten sind und schlägt eine Veröffentlichung zwischen 27 und 25 v. Chr. vor (13).

Auf einigen Seiten erläutert Zenk die Fragestellungen, die sich für ihn ergeben haben (13-21). Zunächst konstatiert er ein Desiderat in der Liviusforschung, nämlich das Fehlen einer „weitestgehend textimmanenten Untersuchung zur Romdarstellung des Livius hinsichtlich der römischen Frühzeit, über die Livius in der ersten Pentade berichtet“ (13). Welche Aspekte Livius in seinem Opus über Rom behandelt, geht aus der praefatio hervor, die Zenk zum Teil auf S. 15 hat abdrucken lassen. Eine Übersetzung wird nicht präsentiert, aber der Autor paraphrasiert wichtige Aussagen und analysiert sie unter der gewählten Fragestellung. Er nimmt die Leser/Leserinnen gewissermaßen an die Hand und führt sie sukzessive durch den Text. Ihm ist auch bewusst, dass sich in Rom die Erinnerungskultur und damit verbunden die Geschichtsschreibung in der ausgehenden Republik und der beginnenden Kaiserzeit entscheidend verändert haben (16). Zenk vergisst auch nicht den Aspekt hervorzuheben, dass Livius aus Padua stammt und damit gewissermaßen „eine Art Außenperspektive auf Rom hatte“ (16). Er stellt die von Livius gewählten Kategorien vor, die er in der praefatio erkennt. Nach Zenk beleuchtet der römische Historiker „die Bedeutung übernatürlicher Phänomene“ (16). Livius sei davon überzeugt, dass es in der Frühzeit eine Mischung von Menschlichem und Göttlichem gegeben habe (Praefatio 7: datur haec venia antiquitati ut miscendo humana divinis primordia urbium augustiora faciat). Damit hat sich Livius nach Zenk vom Göttlichen distanziert und legt nun „genauere, rationale Kategorien vor, die sein Werk über die Geschichte Roms leiten sollen“ (16/17). Die von Zenk gewählte Interpretationsmethode (textimmanente Analyse) erlaubt ihm, die Originaltexte genau zu untersuchen und schrittweise in der Erklärung voranzuschreiten. Dieses Verfahren ist transparent und kann auch in der Schule angewandt werden, ohne dass zuvor theoretische Konstrukte vorgestellt werden müssen, die zumindest für Schülerinnen und Schüler meist schwer nachvollziehbar sind. Das bedeutet nicht, dass auch andere Interpretationsverfahren als obsolet deklariert werden sollten, aber der Autor hat sich nun einmal für das textimmanente Verfahren entschieden. Zenk präsentiert auf S.18 die von Livius gewählten Kategorien: zunächst geht es um „die Bedeutung der Götter bzw. der übernatürlichen Phänomene“ (18); die Götter spielen zwar eine große Rolle für die Frühzeit, aber Livius distanziert sich von ihnen. In diesem Zusammenhang untersucht Zenk genau die Konzeption von fatum und die Zeichen wie Prodigien und Augurien. Danach wendet er sich den „vermeintlich historisch belegbaren Aspekten der Romdarstellung“ zu. Unter der Junktur „imperium et partum et auctum“ stehen „das Herrschaftsgebiet“, „die Entwicklung der Bevölkerungszahl und das Wachstum der römischen Herrschaft“ und „die Bedeutung von Krieg und Frieden im Äußeren und im Ineren (domi militiaeque)“ im Fokus (18). Für Zenk ist entscheidend, wie Livius diese Kategorien anwendet und mit „seiner literarischen, insbesondere narrativen Technik darstellt“ (19). Der zeitliche Rahmen der Analyse erstreckt sich von der Vorgeschichte der Stadtgründung bis zur Königszeit und der Epoche des Galliereinfalls (387 v. Chr.)

Der Forschungsbericht (21-24) stellt die Publikationen heraus, auf die sich Zenk besonders stützt. Dazu gehören mit voller Berechtigung die im Jahr 1964 nachgedruckte Monographie von E. Burck: Die Erzählkunst des T. Livius (Berlin/Zürich), die erstmals 1933 erschienen war, die verschiedenen Beiträge, die D. Pausch zur Erforschung des livianischen Werks geleistet hat (vgl. Literaturverzeichnis, S. 347), das Standardwerk von T. J. Luce, Livy. The Composition of His History, Princeton 1977, D. S. Levene, Religion in Livy, Leiden/New York/Köln 1993, G. B. Miles Livy. Reconstructing Early Rome, Ithaca /London 1995 sowie A. Feldherr, Spectacle and Society in Livy’s History, Berkeley/Los Angeles/London 1998. Einen Platz im Forschungsbericht hätte auch die Studie von R. von Haehling verdient, auf die sich Zenk immer wieder bezieht: Zeitbezüge des T. Livius in der ersten Dekade seines Geschichtswerkes: nec vitia nostra nec remedia pati possumus, Stuttgart 1989.  

Sein methodisches Vorgehen erläutert Zenk sehr ausführlich (24-35). Er stützt sich dabei auf die Instrumente der Erzähltheorie bzw. der Narratologie. Schwerpunktmäßig untersucht er die Erzählperspektive und die Variation des Erzähltempos (24). Zenk setzt voraus, dass „das Geschichtswerk des Livius eine Erzählung ist“ (24). Hierbei ist ihm aber bewusst, „dass die relevanten Literaturtheorien aus dem Bereich der Narratologie für rein fiktionale, moderne Texte und nicht anhand von und für antike Texte entwickelt worden sind und auf die Gattung ‚Geschichtsschreibung‘ mit besonderer Vorsicht anzuwenden sind“ (25). Entsprechend den Vorgaben der Erzähltheorie gilt es, das Verhältnis von Autor und Erzähler zu bestimmen (27). Es gäbe - so Zenk – zwei Stimmen, die unterschieden werden müssen: „die des Erzählers, der die Ereignisse, d. h. die Handlung, erzählt, und die des Autors, der in der ersten Person Singular in der praefatio, im Binnenproöm des sechsten Buches und an anderen Stellen auftritt“ (29). Weiterhin sei klar, dass Livius eine auktoriale Perspektive einnehme: „Er weiß mehr als alle Figuren in der Handlung und kann auch die Reden und Gedanken der historischen Personen erzählen“ (29). Aufgrund des gewählten Interpretationsverfahrens kann Zenk konstatieren, dass der Historiker dem Leser eine Multiperspektivität anzubieten vermag. So können verschiedene Gruppen zu Wort kommen, zum Beispiel „die Römer“ oder „die Volkstribunen“ (30). Dialoge wie in den Werken des Sallust, der Cato und Caesar gegeneinander sprechen lässt, gibt es im livianischen Geschichtswerk nicht. Zenk arbeitet an verschiedenen Textstellen heraus, dass sowohl die praefatio als auch die erste Pentade im Wesentlichen einen fiktionalen Text darstellen (32). Bei der Analyse der Textabschnitte orientiert sich Zenk am sogenannten close reading, d. h. er untersucht den jeweiligen Text sehr genau, spürt Bedeutungsnuancen und sprachliche Charakteristika auf, achtet exakt auf einzelne Lexeme, auf die Syntax und auch auf die Reihenfolge der Sätze. Es liegt am Geschick des Interpreten, die zahlreichen Einzelbeobachtungen so in seine Interpretation einzuflechten, dass der Text lesbar und für den Leser nachvollziehbar bleibt. Dies ist Zenk nach Ansicht des Rezensenten sehr gut gelungen. Im Folgenden möchte ich dafür drei ausgewählte Beispiele liefern.

Erstes Beispiel: Die Apotheose des Romulus. Zenk untersucht gemäß seinen Vorstellungen die Textstelle des Livius zur Apotheose des Romulus (1,16,1-8) praktisch Satz für Satz, arbeitet für die moralischen Werte wie virtus und fides die kontextgerechte Bedeutung heraus und geht auf sprachliche Eigenheiten ein. So gelingt ihm der Nachweis, dass sich Livius phasenweise einer epischen Diktion bedient (zum Beispiel das Wort pubes), und gibt Beispiele für die Multiperspektivität. Allerdings verzichtet er auf eine Anspielung auf die Apotheose des Aeneas, die von verschiedenen lateinischen Autoren behandelt worden ist, etwa von Vergil in der Aeneis (Aen.12, 791-806) und von Ovid in den Metamorphosen (Met.14, 581-608). Auch die Rede des Proculus Iulius, die dieser vor der Volksversammlung hält (1,16,57), enthält episch-hymnische Elemente. Zenk legt dar, wie Livius Erzählebenen wechselt (direkte Rede, auktorialer Kommentar). Die vorgelegte Analyse der Apotheose des Romulus ergibt erstens, dass Livius sie als Element der Sagen der Frühzeit erzählt, sich aber mit Bezugnahme auf die römischen Werte von ihr distanzieren kann. Gewissermaßen beiläufig schafft es der Historiker, das Aition für die Verehrung des Gottes Quirinus zu thematisieren und dem „impliziten Rezipienten wie auch dem Leser den Willen der fata zu offenbaren“ (117).

Zweites Beispiel: Aeneas. In welchem Verhältnis Aeneas und Romulus stehen, überliefern die römischen Autoren uneinheitlich. Zu beachten bleibt indes, dass zwischen beiden ein Zeitraum von annähernd 300 Jahren liegt, so dass sich die Version, Romulus sei ein Enkel oder gar Sohn des Aeneas, nicht durchsetzen konnte. Dafür hat man die albanischen Könige gewählt, um die Zeit zu überbrücken. Zenk arbeitet aber auch Unterschiede zwischen dem Urvater Roms (Aeneas) und dem Stadtgründer Romulus heraus. Obwohl Aeneas in der Darstellung des Livius wie Romulus eine Apotheose erfährt (1,2,6), wird dieser Vorgang nicht genau erzählt. Lediglich der Hinweis darauf, dass er als Jupiter Indiges verehrt wird, weist auf die Vergöttlichung hin (234). Zenks Analysen lassen deutliche Unterschiede zwischen den beiden Darstellungen der Geschehnisse bei Vergil und Livius erkennen. Für den Historiker spielt die pietas des Aeneas keine Rolle, wohl aber „stehen die Aitien des Friedensschlusses und des Vertragsschlusses verbunden mit dem Wert der amicitia im Mittelpunkt der Erzählung“ (234). Livius suggeriert, dass der eigentliche Gründer der Stadt Rom Romulus ist (235). Durch die knappe Erzählung der Sage des Aeneas erhielt diese Figur erheblich weniger Bedeutung für die spätere Geschichte als bei Vergil (234).

Drittes Beispiel: Coriolan als negatives Beispiel eines Patriziers, der durch einen sehr ausgeprägten Machtwillen dargestellt wird. Auch an der Episode der secessio plebis und der Rolle des Coriolan macht Zenk deutlich, wie Livius erzähltechnisch vorgeht. Er wechselt die Perspektiven, beginnend mit der auktorialen Perspektive, und berichtet dann aus der Sicht der Patrizier. Darin eingebaut wird die berühmte Fabel des Menenius Agrippa, der diese selbst erzählt (304). In diesem Zusammenhang wird auch das eingeführte Amt des Volkstribunen vorgestellt, das Coriolan bekämpft. Aber Livius unterlässt es nicht, auch die Perspektive der Plebs einzubringen. So gelingt ihm wieder die Multiperspektivität zu realisieren. Dass Livius einen aufmerksamen Leser erwartet, der größere Teile des Geschichtswerks im Blick hat, zeigt auch der Hinweis von Zenk, dass Livius mit Rückblicken arbeitet (395). Dies beweist wieder, dass unser Historiker sehr vielschichtig zu schreiben vermag.  

Das umfangreiche Literaturverzeichnis enthält wichtige Titel der Forschungsliteratur (338-351). Allerdings hätte man sich auch die Berücksichtigung folgender Titel gewünscht: M. von Albrecht, Große Geschichtsschreiber, Kap. 12: Livius, Römische Wertbegriffe, dargestellt an den Anfangskapitel, in: Große römische Autoren. Texte und Themen. Bd. 1. Caesar, Cicero und die lateinische Prosa. Heidelberg 2013, 147-164 sowie Ders., Große Geschichtsschreiber, Kap. 13: Livius, Fides, Völkerrecht und ein bestrafter Schulmeister, in: Ders., a.a.O., 165-171; U. Schmitzer, Rom im Blick. Lesarten der Stadt von Plautus bis Juvenal (hier besonders die Seiten 44-54 zu Livius), Darmstadt 2016.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass J. Zenk klar nachvollziehbare Resultate vorgelegt hat. Dank der gewählten Interpretationsmethode, nämlich die primär textimmanente Perspektive, gelingt es ihm, auch unter Beachtung der Vorgaben des close reading, die Art und Weise, wie Livius die Anfänge Roms erzählt, anschaulich zu machen. Zenk berücksichtigt die aktuelle Forschungslage und bringt sie voran, geht auf die von Livius benutzten Quellen und auf entscheidende Fragen, die die Forschung aufgeworfen hat, ein. Anhand zahlreicher feinfühliger Interpretationen der wichtigsten Textstellen arbeitet Zenk die Multiperspektivität heraus, die Livius in der ersten Pentade angewandt hat. Er erleichtert dem Leser die Lektüre durch einen angenehmen sprachlichen Duktus. Denjenigen, die sich intensiv mit dem Geschichtswerk ab urbe condita befassen möchten, ist die Anschaffung des Buches zu empfehlen, auch für Lehrkräfte, die das Geschichtswerk des Livius im Unterricht behandeln wollen.

Rez.ZenkLiviusBild

Dietmar Schmitz