Neuerscheinung des Monats

Madeline Miller, Galatea. Erzählung, illustriert von Thomke Meyer,  Madeline Miller, Galatea. Erzählung, illustriert von Thomke Meyer,  München (Eisele) 2022, ISBN 978-3-96161-141-6, € 20,00

Pygmalions Geschichte ist, eingewoben in die tragische Erzählung des  Orpheus, insbesondere durch Ovid bekannt: Die Erschaffung und  Verwandlung der unvergleichlichen Statue in eine echte Frau mit Hilfe  der Göttin Venus sowie die Eheschließung, die durch das Kind Paphos  gesegnet wird, ist Thema einer Sage, die Orpheus nach dem erneuten und  endgültigen Verlust seiner Eurydike preisgibt (Ov. met. 10,243–297).  Während die Geschichte  des antiken Dichters mit der Erwähnung der  Empfängnis endet, beginnt Millers Kurzgeschichte nach einem weiteren  Zeitsprung von zehn Jahren und gibt Galatea, dem einstigen Kunstwerk,  neben ihrem Namen auch noch eine Stimme und einen starken Willen, um  ihre Gefühle und Sicht der Ereignisse auszudrücken und nach ihren  Interessen zu handeln. Wie in ihren anderen Werken („Das Lied des  Achill“ und „ Ich bin Circe“) entsteht das W(underw)erk also durch  einen deutlichen Perspektivwechsel. In ihrem Vorwort beschreibt Miller  Pygmalion als Prototyp des Incel und macht bereits damit klar, was sie  vom ursprünglichen Blickwinkel des Mythos hält. Gestärkt wird von ihr  indes die feminine Willenskraft der Mütter, die keine Grenzen kennt.  So befindet sich Galatea in der fingierten Fortsetzung des Mythos  eingesperrt in ärztlicher Betreuung, da sie versucht hatte, gemeinsam  mit ihrer Tochter dem lieblosen Pygmalion zu entkommen. Um ihrem Kind  ein besseres Leben ermöglichen zu können, fasst Galatea einen Plan,  den sie entschlossen und trotz aller eigenen Einbußen umsetzt.Das Opusculum wird mit einem Vorwort geziert, enthält für den eigenen  Abgleich die Holzberg-Übersetzung der ovidischen Fassung und schließt  mit einem Nachwort Knabls. Eine besonders künstlerisch ansprechende  Gestaltung wird durch die in Blautönen gehaltene Illustration Meyers  erreicht, die sowohl die Stimmung als auch das Ende der Geschichte zu  unterstreichen sucht.

Anna Stöcker

Andreas Fritsch: Schriften

https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/propylaeumdok/view/schriftenreihen/sr-77.html

Ce n'est pas un livre – es hätte aber eines werden können: In einer noch gar nicht so weit zurückliegenden Zeit war es akademischer Brauch, die „Kleinen Schriften“ eines Forschers noch einmal zwischen Buchdeckel zusammenzufassen und auf diese Weise wieder verfügbar zu machen, oder auch nicht: Denn diese Sammlungen fanden nur selten eine Verbreitung über die Sammelband-Abteilungen der universitären Spezialbibliotheken hinaus, die einzelnen Beiträge waren für Externe dann doch nur auf dem bisweilen recht bürokratischen Fernleihweg erhältlich.

Die Digitalisierung auch der Geisteswissenschaften hat – ein wenig im Verborgenen - neue Möglichkeiten geschaffen. Besonders für die Altertumswissenschaften hervorzuheben ist das Propylaeum-Projekt (https://www.propylaeum.de/), das von der UB Heidelberg und der Bayerischen Staatsbibliothek München getragen wird, und zu dem neben Bibliothekskatalogen, Datenbanken sowie dem Netzwerk recensio.antiquitatis auch eine elektronische Publikationsplattform (https://www.propylaeum.de/publizieren) gehört, die Buchpublikationen genauso einen Ort gibt wie ganzen Schriftenreihen oder – in unserem Fall relevant – die Wiederveröffentlichung von Zeitschriftenaufsätzen ermöglicht, die anders als etwa bei academia.edu nicht kommerziellen Interessen folgt.

Dafür zunächst einige Beispiele:

Andreas Fritsch (geb. 1941) muss kaum vorgestellt werden. Als Berliner Lehrer, Professor an der Pädagogischen Hochschule und dann an der Freien Universität (eine Reihe von Jahren auch für Humboldt-Universität zuständig) und nicht zuletzt seit 1991 als Redaktor der MDAV und des Forum Classicum hat er über viele Jahre oder besser: Jahrzehnte die altsprachliche fachdidaktische Diskussion mitgeprägt. In dieser Zeit sind zahlreiche Beiträge entstanden, die heute noch relevant, aber nicht leicht an ihren Originalpublikationsorten aufzufinden sind (vgl. https://www.klassphil.hu-berlin.de/de/personen/fritsch).

Nun lassen sich aber die Digitalisate von aktuell (Stand Mitte Januar 2023) von neunzehn dieser Publikationen bequem lesen (weitere Veröffentlichungen scheinen geplant). Die Reihe beginnt mit einem langen Aufsatz, in dem sich Bildungsgeschichte und aktuelle didaktische Fragen verbinden, nämlich zu „Sprache und Inhalt lateinischer Lehrbuchtexte. Ein unterrichtsgeschichtlicher Rückblick“ Nr. 1, 1976), worin – das ist typisch für Fritsch – der Blick auf die Tradition seit der frühen Neuzeit (immer wieder erscheinen Comenius und Gedike) als Maßstab für die aktuelle Praxis dient. Auch wenn seither mehrere Lehrbuchgenerationen ihren Weg in die Schulen und auch wieder heraus gefunden haben, so sei dieser Text allen Verfassern von Lateinbüchern ans Herz gelegt (und natürlich auch den Verlagsverantwortlichen). Mit der Geschichte des altsprachlichen Unterrichts befassen sich auch Nr. 10 (zu Wilamowitz), 28 (Zeittafel zum altsprachlichen Unterricht in Berlin von 1945 bis 1990), 29 (40 Jahre DAV Berlin), 48 (Comenius) sowie 49 und 52 (zu Gedike).

Einer von Fritsch‘ Lieblingsautoren ist Phaedrus, dem er sich in Nr. 16, 25 und 30 in unterschiedlichen Facetten nähert. Dass Latein nicht nur geschrieben, sondern auch gesprochen gehört, hat Fritsch in zahlreichen officinae Latinae auf den DAV-Kongressen und darüber hinaus immer wieder mit Nachdruck vertreten. Nachlesen kann man diese Position in Nr. 13, 33 und 44. Konkret der (zur Entstehungszeit) aktuellen fachdidaktischen Debatte wendet sich Fritsch in Nr. 34, 38 und 40 zu.

Schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt lassen sich in der keineswegs beliebig bunten, aber abwechslungsreichen Reihe auf Schritt und Tritt lohnende Anregungen zum Nach- und Weiterdenken (wieder)entdecken. Wer beispielsweise den kleinen Aufsatz über die „Antike im Spiegel Berliner Straßennamen“ gelesen hat, wird künftig bewusster durch diese Stadt gehen.

Diese Sammlung der Schriften von Andreas Fritsch zeigt auch exemplarisch, wie die Digitalisierung dazu beitragen kann, dass einmal Geschriebenes aus dem kollektiven Gedächtnis nicht so leicht verschwindet. Denn die Beiträge sind (wie alle vergleichbaren Sammlungen bei Propylaeum) nicht nur über die Suchfunktion oder als Katalog auffindbar, sondern auch über die einschlägigen Suchmaschinen zu ermitteln: Quod non est in Google, non est in mundo – dem ist hiermit Rechnung getragen.

Ulrich Schmitzer, HU Berlin

Wolfgang Will, Der Zug der 10 000. Die unglaubliche Geschichte eines antiken Söldnerheeres, München (C.H. Beck) 2022, ISBN 978-3-406-79067-6, € 28,00

In den Jahren 401 bis 399 nimmt Xenophon an einem Zug von 10.000 griechischen Söldnern teil, die in einem Streit um den persischen Thron der Jüngere Kyros gegen seinen Bruder Artaxerxes II. anwirbt. Aus eigenem Erleben schildert Xenophon später in seiner Anabasis, wie die Truppe zur Schlacht bei Kunaxa im Zweistromland zieht, wie sie dort einen Sieg erringt und zugleich den Tod ihres Anwerbers verschuldet, wie sie sich unter hohen Verlusten, unter Kämpfen und Plünderungen ihren Rückweg aus Babylonien über das Schwarze Meer nach Griechenland bahnt. – Wolfgang Wills Buch folgt der Anabasis in bemerkenswerter Weise: Nach einer kurzen Einführung in die Biographie des Verfassers, die eng verbunden ist mit den politischen Wirrnissen in Athen am Ende des Peloponnesischen Krieges, folgt Will der Darstellung des Xenophon: Er gibt sie wieder, ordnet sie historisch ein, erläutert und illustriert sie – auch durch Skizzen und Karten. Schon dieses Konzept der Wiedergabe eines bei unmittelbarer Lektüre zwar reizvollen, aber doch in vielem der Kommentierung bedürfenden Werkes, ist reizvoll und bietet einen höchst ansprechenden Lesestoff: Man erhält Einblicke in die politischen, militärischen und ökonomischen Aspekte des Krieges in der Antike – und in dessen allgegenwärtige Brutalität, die sich nicht nur in Kämpfen und Eroberungen, sondern auch in Versklavung und Vertreibung, dem Raub der Lebensgrundlagen und der Zerstörung der Infrastruktur niederschlägt. Es konkretisiert sich Bedeutung von angewandter Rhetorik und Manipulation, sowohl innerhalb des griechischen Söldnerverbandes, aber auch gegenüber Gegnern und Verbündeten. Es scheint die ethnische, sprachliche und kulturelle Pluralität des Perserreichs ebenso auf die wie Konflikte innerhalb des heterogenen griechischen Heeres, in dem weniger ein panhellenischer Gedanke als vielmehr die Einsicht, dass nur ein gemeinsamer Rückzug erfolgversprechend ist, die Konflikte und das Misstrauen zwischen Athenern, Spartanern und anderen überdeckt. Auch das Erleben von Natur und Wetter, von Flora und Fauna, wie es sich bei Xenophon findet, gibt Will wieder. Doch folgt der Althistoriker hier nicht nur klug erläuternd Xenophon, er hinterfragt auch dessen Darstellung: So rückt sich der Aristokrat immer wieder selbst ins rechte Licht dessen, der vom bloßen Begleiter des Zuges zum fähigen Anführer heranreift, er greift Topoi aus der Heimkehrergeschichte schlechthin, der Odyssee, auf und er wird – und das besonders schlagende Zusammenhänge – in seiner Selbstdarstellung immer wieder zum Vorbild Caesars. An keiner Stelle unterliegt Will der Versuchung, eine bloße Abenteuergeschichte zu erzählen, worin aber für ein antikes Publikum der Reiz der Anabasis liegen musste, leuchtet einer modernen Leserschaft unmittelbar ein. Bei all dem verliert Will aber nie den analytischen Blick des Althistorikers. Die Mischung aus wissenschaftlicher Differenzierung und flüssiger Lesbarkeit entlang der Anabasis lässt so ein gelungenes Buch entstehen.

Stefan Freund
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Eleanor Dickey, Latein lernen wie in der Antike. Latein-Lehrbücher aus der Antike. Aus dem Englischen übersetzt von Marion Schneider, Basel (Schwabe Verlag) 2022, ISBN Printausgabe 978-3-7965-4088-2, ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4645-7, 22,00 Euro

In Witzesammlungen der 1970er Jahre fand sich der folgende: „Was hatten die alten Römer uns voraus? – Sie brauchten nicht Latein zu lernen.“ Es gehört zum Charme des hier vorgestellten Werkes, dass diese vermeintlich banale Alltagsweisheit hinterfragt wird: Auch in der Antike und von Römerinnen und Römern wurde Latein erst gelernt. Dabei handelt es sich in erster Linie um Bewohner der östlichen Reichshälfte, für die Erstsprache oder alltägliche Lingua franca Griechisch war, die aber für Aufgaben in der Verwaltung oder im Heer, für eine Tätigkeit als Kaufmann oder im juristischen Bereich Lateinkenntnisse benötigten. Dafür entstand in der Antike eine Reihe von Materialien, die Eleanor Dickey in der angenehm zu lesenden Übersetzung von Marion Schneider hier einleitet und in Auswahl präsentiert. Die Einleitung beantwortet die Fragen nach den Lernenden (dem zwar wissenschaftlich stets fundierten, aber didaktisch orientierten Grundduktus des Buches käme es entgegen, hier noch biographisch fassbare Beispiele zu ergänzen – ob der Apostel Paulus als civis Romanus, der sich dem Rezensenten aufdrängt, ein schülernahes Exempel wäre, sei dahingestellt), nach der Methodik (durch bilinguale Texte, wobei Grammatiken auch für Anfänger einsprachig Lateinische waren, was wohl nur bedingt funktionierte – siehe S. 20), nach den Überlieferungswegen (Papyri und Handschriften ergänzen einander – in der indirekten Überlieferung sind die Hermeneumata von besonderem Interesse) und nach der Auswahl, in der der Hauptteil des Buches diese Texte bietet. Dieser nämlich enthält eine Sammlung von Texten aus antikem Lehrmaterial. Dabei wird so verfahren, dass die für die Lernenden verständlichen griechischen Passagen in deutscher Übersetzung wiedergegeben sind, das Lateinische (auch das nur Lateinische) lateinisch. Die Textauswahl beinhaltet Kolloquien, also sprachführerartig zweisprachig gestaltete Alltagsszenen, aber auch solche aus dem juristischen und mythologischen Bereich, Anekdoten oder Fabeln, Ausschnitte aus der Aeneis, Musterbriefe und eine Sallust-Kommentierung), Ausschnitte aus grammatikalischen Werken (Dositheus, schon in der Antike in Auswahl zweisprachig geboten, und Charisius, hier nur lateinisch geboten) Glossaren (hier in ausgewählten Beispielen nach Wortfeldern, zum Beispiel zum Theater), ein Zeugnis von Stilübungen (ein Übersetzungsversuch einer Babrius-Fabel vom Griechischen ins Lateinische), Alphabete (oder die Versuche dazu – hier ist nun das Griechische der Papyris-Vorlage übernommen, also Α βη κη δη η εφ γη usw.) und transliterierte Texte (das liest sich dann so: Σι ομνης βιβεριντ, τεργε μενσαμ. – dazu kommt dann die deutsche Übersetzung des ‚lateinischen‘ Textes, dieser selbst nicht, also beispielsweise auch: er sieht – ουιδετ). Im letzten Teil des Buches werden zweisprachige Texte (wie in den Kolloquien, also Alltagsszenen und mythologische Text usw., aber auch Ausschnitte aus der Grammatik des Dositheus und Glossare) mit dem griechischen Original (also nicht, wie vorher, mit der deutschen Übersetzung) gegenübergestellt, am Ende sind noch, eingeleitet durch ein deutsches Beispiel (LEISERIESELTDERSCHNEE), Texte ohne Worttrennung geboten, die die Schwierigkeit der Scriptio continua erkennen lassen. Am Ende steht eine Übersicht über die antiken Texte zum Lateinlernen, aus der die hier vorgelegte Auswahl schöpft, sie ist chronologisch geordnet und reicht vom 1. bis zum 7. nachchristlichen Jahrhundert. Das Buch entspringt der vorzüglichen Idee, einen Blick auf das antike Lateinlernen in den griechischsprachigen Regionen des römischen Reichs zu werfen. Das kann in vielen Zusammenhängen anregend und hilfreich sein: Es lässt die Bedeutung des Lateinischen als Sprache eines gewaltigen Raumes erkennen, der weite Teile Europas, Afrikas und Asiens umfasst, es bietet eine kommentierte Quellensammlung zu einem wenig beachteten Bereich antiker Bildungs- und Schulgeschichte, es lenkt wiederum den Blick auf die Mehrsprachigkeit und damit die ethnische und kulturelle Diversität des römischen Reichs, es ermöglicht Einblicke in die antike Didaktik(in der offenbar der Sprachvergleich ein wesentliches Moment war) und regt ein grundsätzliches Nachdenken über die gegenwärtige an, es ergänzt die immer wichtiger werdende (kritische!) Lehrbuchforschung sozusagen nach vorne und macht ganz nonchalant die 2000-jährige Geschichte des Lateinunterrichts manifest, es bietet Anstöße zu Lehrbuchtexten gerade für die Anfangsphase, die so, also auf antiken Vorlagen fußend, etwas weniger anachronistisch geraten könnten. Dem dank zahlreicher Sponsoren (siehe S. 4 – unter ihnen der Schweizer Altphilologenverband) erfreulich preisgünstigen Buch sei eine zahlreiche Leserschaft gewünscht. Man wird es schwerlich ohne frappierende, horizonterweiternde oder schlichtweg amüsante Erkenntnisse und Einsichten über das Lateinlernen und ‑lehren aus der Hand legen.

Stefan Freund
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Späth, Th. (Hrsg.) (2021), Gesellschaft im Brief. Lire la société dans la lettre. Ciceros Korrespondenz und die Sozialgeschichte/La Correspondance de Cicéron et l’histoire sociale. Collegium Beatus Rhenanus Bd. 9. Franz Steiner Verlag: Stuttgart. 430 S., EUR 72,- (ISBN 978-3-515-13095-0).

Die annähernd 1000 Briefe an und von Cicero bilden ein besonderes Quellenkorpus. Über keine andere Person der Antike gibt es mehr Selbstzeugnisse, die immer wieder Gegenstand der Forschung waren und sind. Vor allem im 19. Jahrhundert wurden die Aussagen in den Briefen Ciceros Textstellen aus anderen Schriften desselben Autors gegenübergestellt und vermeintliche Defizite und Umstimmigkeiten konstatiert. Die Verfasser der Beiträge des zu rezensierenden Bandes wählen einen anderen Zugriff auf die Interpretation der Briefe Ciceros. Im ersten Beitrag (Sozialgeschichte und Ciceros Korrespondenz als Chronotopos, 9-25) versucht der Herausgeber des Bandes, Thomas Späth (S.), in knappen Strichen die Zielsetzung des Buches zu beschreiben. Die Besonderheit liegt darin, dass sich 2009 ungefähr „dreißig AlthistorikerInnen, ArchäologInnen und PhilologInnen (…) der Universitäten Basel, Bern, Freiburg i. Br., Mulhouse und Strasbourg an einer Tagung des Collegium Beatus Rhenanus mit sozialhistorischen Forschungstraditionen auseinander“ (10) gesetzt haben. Daraus entwickelte sich ein Forschungsprojekt, aus dem mehrere Publikationen entstanden. Das Projekt trägt den Titel: „Sozialgeschichte und histoire culturelle: Perspektiven einer neuen römischen Sozialgeschichte – Sozialgeschichte et histoire culturelle: vers une nouvelle histoire sociale de l’Antiquité romaine“ (10). S. erinnert daran, dass die historisch-anthropologischen Ansätze, die seit mehr als sechs Jahrzehnten in Frankreich, Deutschland und Italien existieren, keinen Niederschlag in der traditionellen Sozialgeschichte gefunden haben. Es werden weitere Defizite und Desiderate genannt, an denen das Projekt ansetzt. Betont wird, dass es zu einem produktiven Austausch von Wissenschaftlern verschiedener Länder mit verschiedenen Forschungstraditionen kommt. S. macht darauf aufmerksam, dass der Ausgangspunkt der Analysen der beteiligten Forscher „die gesellschaftlichen Praktiken sind, die auf durch sie konstituierte Gruppierungen von Akteuren genauso wie auf Beziehungen unter ihnen hin ausgewertet werden; diese Praktiken sind in ihren situativen Dispositionen (d. h. in Räumen wie domus oder urbs, historischen Sachlagen wie Konflikten oder Gewalt, kollektiven Rahmen wie Familie oder politischen Strukturen) zu erfassen und auf ihre materiellen und symbolischen Bedingungen (ökonomische und ökologische Voraussetzungen, kollektive Vorstellungen von Identität, Vergangenheit, Geschlecht) zu prüfen“ (11). Die als abstrakte Untersuchungsanlage erarbeitete Matrix wurde von verschiedenen Forschern auf die Briefe Ciceros angewandt. S. erläutert ebenfalls, warum sich gerade das Briefkorpus des berühmten römischen Redners anbot (12-13). Der neue Zugriff auf die Korrespondenz Ciceros kann nach Aussagen von S. „den Blick auf die Zusammenhänge gesellschaftlicher Praktiken öffnen“ (13). Die am Projekt beteiligten Wissenschaftler „formulieren den literaturtheoretischen Begriff des Chronotopos neu für“ ihre „historische Problemstellung“ (14). Des Weiteren stellt S. kurz die drei Kapitel und ihre jeweiligen Beiträge vor. Am Ende des einführenden Aufsatzes finden sich wichtige bibliographische Hinweise, genauso wie es bei den anderen Essays praktiziert wird. Der zweite Beitrag im Einführungsteil stammt von Jürgen von Ungern-Sternberg, der auf die Leistungen von drei Forschern eingeht, die wichtige Stationen in der Tradition der Sozialgeschichte darstellen, nämlich die wissenschaftlichen Leistungen von Gaston Boissier, Matthias Gelzer und Eugen Täubler (Drei Beiträge zu einer römischen Gesellschaftsgeschichte, 27-58). Diese Ausführungen sind sehr lesenswert und informativ, so dass die Leserinnen und Leser die großen Traditionslinien der Sozialgeschichte besser einordnen und auch die neuen Ansätze des Projekts begreifen können.

Danach folgen die drei Kapitel, die jeweils aus vier Beiträgen bestehen. Das erste Kapitel trägt den Titel: Nouveaux objets – Forschungsgegenstände (61-158), das zweite ist folgendermaßen überschrieben: Nouveaux problèmes – Problemstellungen (161-250), die Überschrift des dritten Kapitels lautet: Nouvelles approches – Ansätze (251-402). Am Ende des Buches gibt es Informationen über die Autorinnen und Autoren (403-405), über die Textausgaben, Übersetzungen und Referenzen (407-408); daran schließen sich der Index locorum (409-424) sowie der Index nominum an (425-430). Im Rahmen dieser Rezension ist es nicht möglich auf alle Beiträge näher einzugehen. Daher habe ich einige wenige Aufsätze ausgewählt, die ich einer genaueren Betrachtung unterziehe.

Im ersten Kapitel befassen sich die Analysen mit dem Bild, das Cicero im Briefwechsel mit seinen Partnern bezüglich seiner politisch-gesellschaftlichen Stellung von sich selbst entwirft. Gemäß den Vorgaben des Chronotopos steht die Situierung in Räumen und in der Temporalität „um den metaphorischen Raum der magistratischen Aufgaben im konkreten Raum der Provinz, um die Bedeutung des urbanen Raums, aus dem das Exil den Protagonisten ausschließt, um die Handlungsräume aristokratischen Wohnens und um Beziehung dieser Räume mit der Temporalität der Spannung zwischen Gegenwart und Vergangenheit“ (16) im Vordergrund. Im ersten Beitrag, der aus der Feder von Marianne Coudry (C.) stammt, werden Briefe aus den Jahren 51-50 v. Chr. behandelt, als Cicero Statthalter von Kilikien war; in diesen Briefen konstruiert Cicero das Bild eines exemplarischen Statthalters (La construction de la figure du gouverneur exemplaire, 65-73). Bei der Erstellung eines Selbstbildes ist dem Verfasser der Briefe offensichtlich sehr bewusst, dass neben den „eigentlichen“ Adressaten wie Atticus, Appius Claudius Pulcher, sein Vorgänger im Amt, und die Senatoren „die sekundären Rezipienten zu den impliziten LeserInnen des Schreibenden gehören“ (16); auf diese Weise gelingt es dem homo novus, seine Stellung im sozialen Feld der Senatsaristokratie darzustellen. C. formuliert folgendermaßen, bezogen auf den Brief fam. II 13,2 (81): « Tant le contenu que le ton de cette lettre sont strictement semblables à ceux des lettres que Cicéron adresse lui-même à Appius, et cela laisse penser qu’elle n’était pas destinée au seul Caelius, mais aussi à Appius et sans doute à un cercle plus large, qu’il fallait convaincre du souci qu’avait Cicéron de conserver l’amitié de son prédécesseur » (Sowohl der Inhalt als auch der Ton dieses Briefes sind den Briefen überaus ähnlich, die Cicero selbst an Appius adressiert hat, und dies lässt daran denken, dass der genannte Brief (fam. II 13,2) nicht nur an Caelius gerichtet war, sondern auch an Appius und zweifelsohne an einen größeren Kreis, den er von der Sorge überzeugen musste, die Cicero damit hatte, die Freundschaft zu seinem Vorgänger zu bewahren). Nach C. führt dieses Beispiel zu der Frage der Verteilung dieser Briefe; sie ist davon überzeugt, dass sie in zahlreiche Hände gelangten und mehrmals kopiert wurden. Sie hat den Eindruck, dass man sich in einem Netzwerk befindet, in dem Informationen ausgetauscht wurden, das aber für uns heute weitgehend nicht greifbar, ja sogar hermetisch verschlossen ist (81).

Von großem Interesse sind auch die Ausführungen von Laura Diegel (Selbstbildnisse eines Exilierten. Ich-Narrative Ciceros in den Briefen aus dem Exil und danach, 91-113), die sich vorwiegend den Briefen aus der Zeit des Exils (58-57 v. Chr) widmet. Ein weiterer Beitrag befasst sich mit den Gärten in den Briefen Ciceros und gelangt zu einer veränderten Sicht auf bisher vermeintlich feststehende Erkenntnisse (Ilse Hilbold, Les horti de Rome, «une maison comme les autres»? Pratiques résidentielles aristocratiques dans la correspondance de Cicéron, 115-129). Die zeitliche Dimension im Rahmen des Chronotopos stellt Michel Humm in den Fokus seiner Überlegungen, wenn er das Verhältnis von Sozialbeziehungen und Allusionen auf die römische Geschichte in den Briefen herausarbeitet (Évocations historiques, représentations du passé et autoreprésentation dans la correspondance de Cicéron, 131-158).

Im zweiten Kapitel thematisiert Jan B. Meister das Verhältnis zwischen dem homo novus Cicero und der römischen Aristokratie (161-178). Franziska Reich setzt sich mit dem Faktum auseinander, dass ein Distinktionsmerkmal darin bestand, sich nicht nur literarisch zu betätigen, sondern einen intensiven Austausch von Texten zu pflegen und sich gegenseitig Werke zu widmen (Quod rogas ut mea tibi scripta mittam quae post discessum tuum scripserim : envois littéraires et pratiques de communication dans la correspondance de Cicéron, 179-201). Über Rechtsfragen im Zusammenhang mit familiären Angelegenheiten reflektiert Ann-Cathrin Harder („Wenn wir noch eine res publica hätten…“ – Familie, domus und die Grenzen des pater familias in Ciceros Briefen, 203-221). Im vierten Beitrag stehen Diffamierungen im Vordergrund (Anabelle Thurn, Improbare animum adversari. Invektivisches in Ciceros Reden und Briefen, 223-250).

Das dritte Kapitel umfasst Beiträge, in denen Themen angesprochen werden, die bisher in der Forschung nicht im Zentrum standen, sondern eher marginal behandelt wurden, wenn überhaupt. Im ersten Aufsatz werden medizingeschichtliche Aspekte angesprochen und Fragen der gesellschaftlichen Konsequenzen von Krankheiten thematisiert (Manuela Spurny, Omnia a te data mihi putabo, si te valentem videro – Tiros Beziehung zu Cicero während seiner Krankheitsphasen aus sozial- und medizingeschichtlicher Sicht, 253-280). Die Autorin, Ärztin und Klassische Philologin, hat vor allem die Briefe des sechzehnten Buches der Epistulae ad familiares erforscht, die bis auf eine Ausnahme an Tiro adressiert sind, den Cicero bekanntlich im Jahr 53 v. Chr. aus dem Sklavenstand befreite. Hauptsächlich geht es in vielen behandelten Briefen um den Krankheitszustand Tiros sowie um tagespolitische Fragen. Aus den Angaben dieser Briefe haben Forscher geschlossen, dass Tiro an Malaria gelitten hat. Natürlich ist es schwierig, 2000 Jahre später eine genaue Diagnose abzugeben. Im Falle der Pest, wie sie bei Thukydides beschrieben ist, konnte Karl-Heinz Leven (L.), Medizinhistoriker und Arzt, die Grenzen der Möglichkeiten klar darlegen, noch in der heutigen Zeit klare Diagnosen anhand der Angaben des griechischen Historikers vorzunehmen (K.-H. Leven, Thukydides und die „Pest“ in Athen, in: Medizinhistorisches Journal 26,1991,128-160). Orientiert an den Ausführungen dieses Aufsatzes von L. untersucht M. Spurny (S.) das Briefkorpus Ciceros, um eine sogenannte Verdachtsdiagnose zu präsentieren, die nicht mit einer endgültigen Diagnose verwechselt werden darf. Ich möchte die Ausführungen, die ich für überzeugend halte, nicht bewerten, da ich kein Mediziner bin. Vielmehr ist folgendes zu bedenken: Im weiteren Verlauf ihrer Darlegungen analysiert S. „die Briefe an Tiro im Spiegel antiker Brieftheorie“ (264-269) und klärt „Tiros Verhältnis zu Cicero während seiner Krankheitsphasen“ (269-276). Dabei vermag S. herauszuarbeiten, dass der berühmteste Redner Roms mehrfache Ziele mit seinen Briefen an Tiro verband. Sie waren nicht nur an seinen libertus gerichtet, sondern offensichtlich von vornherein für eine Veröffentlichung vorgesehen. Cicero präsentiert sich einerseits als treusorgender pater familias und stellte sich damit in die Tradition des älteren Cato (Plinius, nat. XXIX 15), andererseits gelang es ihm, sich als idealen Politiker zu zeigen. Auch die Gefühle, die Cicero in den Briefen für Tiro bekundet, sollte man nicht für bare Münze nehmen, was natürlich auch nicht bedeuten soll, „dass er Tiro gegenüber gleichgültig war oder ihn lediglich als wertvollen Helfer im Alltag betrachtete“ (277/278). S. hat auf wichtige Sekundärliteratur zurückgegriffen, sie hätte mit Gewinn auch das Lexikon von L. heranziehen können (K.-H. Leven, Antike Medizin. Ein Lexikon. München 2005). Im nächsten Beitrag geht Simone Berger Battegay (B.) einem Sujet nach, das in der bisherigen Forschung immer wieder untersucht wurde, nämlich Ciceros Meinung über die Griechen (Dies., Cicero, die Griechen und das Fremde in mikrogeschichtlicher Perspektive, 281-313). Der traditionellen Haltung, die darin bestand den Nachweis zu erbringen, dass Cicero entweder eine negative oder eine positive Position gegenüber den Griechen einnahm, setzt B. einen neuen Ansatz entgegen, nämlich den Briefen Ciceros mit Hilfe einer mikrohistorischen Lektüre näher auf den Grund zu gehen. Sie nimmt zunächst Stellung zu den Ergebnissen der älteren Forschung (282-286), um dann ihren Zugriff vorzustellen und den Leserinnen und Lesern zu erläutern. Ein Vorteil bei dieser Methode ist sicherlich, dass nicht wie bisher auf die Leistungen bedeutender Individuen geschaut wird, sondern dass Aspekte „der unbedeutenden Seite des Lebens“ beachtet werden (287). Diese Individuen waren ebenfalls an der Gestaltung der historischen Wirklichkeit beteiligt und verdienen Aufmerksamkeit. B. erklärt den methodischen Zugriff folgendermaßen: „Um diesen epistemologischen Anspruch zu erfüllen, verkleinern die Mikrohistorikerinnen und -historiker den historischen Ausschnitt geographisch, personenbezogen und/oder zeitlich. Sie betrachten das so abgesteckte Feld gleichsam durch eine Vergrößerungslinse und richten ihre Untersuchung auf die lebensweltliche Ebene des Wahrnehmungsradius der einzelnen historischen Subjekte“ (287). Die letzten beiden Aufsätze stellen einmal das Thema Trauer (Susanne Froehlich, Zerrissen Fäden? Der Austausch über Trauerfälle und die Komplexität des sozialen Netzwerks in Ciceros Briefen, 315-344), dann Geschlechterfragen (Th. Späth, Geschlecht und Epistolographie. Männlichkeit in Ciceros Briefen des Sommers 44, 345-402) in den Vordergrund.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Autorinnen und Autoren auf aktuelle theoretische und methodologische Ansätze der historischen Anthropologie zurückgreifen und dadurch die Möglichkeit schaffen, die römische Sozialgeschichte unter neuen Blickwinkeln weiterzuentwickeln. Hervorzuheben ist die intensive Kooperation unter den deutsch- und französischsprachigen Forschern der Universitäten im Raum Basel, Freiburg/Br., Mulhouse und Strasbourg. So gelingt es ein vielfältiges Bild des gesellschaftlichen Alltags im 1. Jahrhundert v. Chr. zu entwerfen.

Rezensent: Dietmar Schmitz

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