Jennifer Saint, Ich, Ariadne. Roman. Übersetzt aus dem Englischen von Simone Jakob, Berlin (Ullstein) 2022, ISBN 978-3-548-06708-7, 416 Seiten, € 16,99 (Englische Originalausgabe: Ariadne, London 2021)
Die britische Schriftstellerin Jennifer Saint hat am King’s College in London unter anderem Altphilologie studiert. In ihrem Debütroman „Ich, Ariadne“ widmet sie sich der Neuinterpretation eines bzw. mehrerer klassischer griechischer Mythen, wobei der zentrale Latinist:innen beispielsweise auch durch Ovids zehnten Heroides-Brief bestens bekannt ist. Die Übersetzung von Simone Jakob fängt die kraftvolle und anschauliche Sprache der Autorin gut ein, sodass die atmosphärische Dichte und Emotionalität im Deutschen erhalten bleiben.
Aus den Perspektiven von Ariadne und Phädra, den Töchtern von König Minos von Kreta und Schwestern des Minotaurus, schildert Saint deren Leben im Palast von Knossos, auf der Insel Naxos und in Athen. Die beiden Figuren fungieren als Ich-Erzählerinnen, wobei Ariadne – wie der Titel bereits impliziert – insgesamt präsenter ist. Untergliedert ist der Roman in vier Teile, die verschiedene Lebensabschnitte Ariadnes (die Flucht aus Kreta, das Leben auf Naxos, das Wiedersehen mit Phädra, der Konflikt zwischen Dionysos und Perseus) schildern: Ihr Leben ist geprägt von Verrat, familiären Konflikten und dem Streben nach Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung. Nach ihrem eigenen Verrat an ihrer Familie und Kreta, indem sie dem Gefangenen Theseus hilft, den Minotaurus zu töten, wird Ariadne von diesem im Laufe der gemeinsamen Flucht auf der Insel Naxos zurückgelassen. Dort begegnet sie später dem Gott Dionysos, heiratet ihn und genießt zwischenzeitlich ein glückliches und abgeschiedenes Leben. Währenddessen muss Ariadnes Schwester Phädra Theseus heiraten und verbringt in Athen als dessen Gattin ein liebloses Leben – bis sie Hippolytus, Theseus‘ Stiefsohn, kennenlernt. Von diesem zurückgewiesen begeht Phädra schließlich Suizid, woraufhin Theseus fälschlicherweise bei Hippolytus die Schuld für den Tod seiner Ehefrau sucht und ihn bis zu seinem Ableben verfolgt. Auch Ariadne wird schließlich Opfer eines Konflikts zwischen zwei Männern: Dionysos ist erzürnt aufgrund der Ablehnung seines Kults durch seinen Halbbruder Perseus in Argos – es kommt zum Kampf, Ariadne gerät buchstäblich zwischen die Fronten.
Geschickt verwebt Saint bekannte Mythen mit feministischen Themen wie Emanzipation und der Hinterfragung der Rolle von Frauen in patriarchalen Strukturen. Dabei beleuchtet sie auch die Machtlosigkeit der Menschen gegenüber den Gött:innen. Ariadnes Schicksal wird zur Metapher für den Kampf um Autonomie und Selbstbestimmung in einer von Männern dominierten Welt. Im Lauf der Geschichte werden zudem weitere weibliche Schicksale wie die von Pasiphaë, Semele und Medusa ausführlich geschildert. Die Geschichten von männlichen Figuren (beispielsweise Minos, Dädalus und Ikarus, Perseus, Theseus, aber auch Dionysos) werden dabei nicht ausgespart, doch der Fokus liegt ebenso klar wie kontinuierlich auf den Frauenfiguren. Die Stärke des Romans ist insbesondere deren Charakterzeichnung: Ariadne ist eine vielschichtige Figur – mutig, verletzlich und zerrissen zwischen ihren Wünschen und den Erwartungen, die an sie gestellt werden. Auch Phädra und ihr Denken, ihre Starrköpfigkeit, aber auch ihr Scharfsinn, werden eindrucksvoll dargestellt. Saint setzt sich intensiv mit den inneren Konflikten der Protagonistinnen auseinander und gibt ihnen eine Tiefe, die ihnen in den ursprünglichen Mythen oft fehlt. Die mythologische Welt wird detailliert und bildhaft beschrieben, bildet dabei jedoch vor allem die Bühne für die die Gefühle und Gedanken der Figuren, die stets im Vordergrund stehen.
Im Ullstein-Verlag weiterhin erschienen sind Saints Romane „Atalanta“ und „Elektra, die hell Leuchtende“.
Philipp Buckl, Bergische Universität Wuppertal