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DAV: Frau Prof. Dr. Rühl, Sie sind nach der Beschreibung Ihrer Stelle Inhaberin einer Professur mit Schwerpunkt Latein/Genderforschung. Woher kam die Initiative für diese Ausrichtung?

Prof. Dr. Rühl: Ich habe eine Professur für Klassische Philologie mit Schwerpunkt Latein/Genderforschung, d.h. ich vertrete zunächst einmal wie alle Kolleginnen und Kollegen in Deutschland das Fach in seiner ganzen Breite (das sollte nicht übersehen werden), bin aber insbesondere Latinistin mit einem zusätzlichen Schwerpunkt in der Genderforschung. – Aber zu Ihrer eigentlichen Frage. Die kann ich Ihnen eigentlich gar nicht recht beantworten, da müssten Sie viel eher bei der Universität Osnabrück nachfragen, ich bin ja nur die Inhaberin einer Professur, die die Universität Osnabrück so ausgeschrieben hatte.

Was ich inzwischen weiß, ist, dass die Universität Osnabrück in den letzten Jahren im Zuge der Profilbildung bestrebt war, bereits vorhandene Forschungsrichtungen interdisziplinär stärker zu bündeln und zu profilieren, darunter fällt auch die Gründung einer Forschungsstelle Geschlechterforschung 2016. Nachdem man bereits Ende der 80-er Jahre eine der ersten Professuren in Deutschland für Allgemeine Pädagogik mit dem Schwerpunkt Frauenforschung eingerichtet hatte (Prof. Dr. Carol Hagemann-White), schien es jetzt offenbar an der Zeit, daran wieder anzuschließen und eine weitere Programmprofessur mit einem entsprechenden Schwerpunkt (jetzt in der Genderforschung) zu etablieren und damit gleichzeitig die historisch und literaturwissenschaftlich arbeitenden Fächer zu stärken.

DAV: War mit der Ausrichtung eine Erleichterung oder Bindung im Hinblick auf die Geldmittelvergabe verbunden?

Prof. Dr. Rühl: Keins von beiden. Meine Professur ist eine der beiden schon immer vorhandenen Professuren für Klassische Philologie/Latinistik, d.h. sie ist an der Mittelverteilung innerhalb der Universität beteiligt. Die Universität konnte aber meines Wissens für die beschlossene Neuausrichtung beim Land Niedersachsen im Rahmen des Maria-Goeppert-Mayer-Programms zusätzliche Mittel in einem Wettbewerb mit anderen Universitäten einwerben.

DAV: Welche Erkenntnisse gibt es zu der Diskussion darüber, ob mit der Profilgebung nicht etwa eine Sicht in antike Texte und Bedingungsfelder hineingetragen werde, welche diesen nicht immanent sei (inklusive etwaiger Banalisierungsgefahren)?

Prof. Dr. Rühl: (lacht) Es ist meines Erachtens ein Trugschluss zu glauben, man könne bis zu dem Punkt vordringen, was ‚die Antike‘, ‚der Autor‘ oder auch ‚der Text‘ wirklich gemeint habe. Es ist deswegen ein Trugschluss, weil subjektives Verstehen Grundlage allen geisteswissenschaftlichen Arbeitens ist. Dementsprechend ist auch keine Sicht auf die antiken Texte frei von Vorannahmen. Aber: Wir können die Subjektivität in der Begegnung mit einem antiken Text reduzieren, indem wir uns über die Prämissen verständigen, die wir an einen Text herantragen, und den Verstehensprozess auf diese Weise transparent machen. Basieren diese Prämissen zusätzlich auf einer auch an anderen Texten, Kulturen und Zeiten erprobten Theorie bzw. einem Konzept wie z.B. gender, so können wir einen hohen Objektivierungsgrad erreichen. Eine Betrachtung der antiken Text unter dem Konzept gender verhindert also gerade, dass man unhinterfragt moderne Vorstellungen in antiken Texten findet, nur weil man danach gesucht hat.

Und wie Sie meinen Ausführungen entnehmen konnten, ist es auch nicht banal, denn entgegen möglicher landläufiger Annahmen, geht es bei gender als Kategorie wissenschaftlichen Arbeitens gerade nicht darum, irgendwen gleichzustellen, den Frauen der Antike zu einer Stimme zu verhelfen oder so etwas in der Art. Denn der Begriff bezeichnet nicht das biologische Geschlecht, es geht nicht um ‚den Mann‘ oder ‚die Frau‘, sondern um die soziokulturelle Konstruktion und Bedeutung von Geschlecht, also um die Frage, was in einer Kultur als ‚männlich‘ und was als ‚weiblich‘ gilt und für wen das eigentlich gilt. Und es geht darum, welche Vorstellungen, Wertungen und Machtverhältnisse damit in einer Kultur (und auch Literatur) zu einer bestimmten Zeit verbunden sind. Neben männlich/weiblich spielen hier immer auch andere Faktoren eine wesentliche Rolle.

Nehmen wir als Beispiel die Rhetorik. Reden gehören in Rom zu einer Textsorte, deren Produktion  exklusiv einem kleinen Ausschnitt der Bevölkerung vorbehalten ist, nämlich demjenigen, der die Voraussetzungen erfüllt, ein patronus oder senator zu sein. Allerdings ändert sich die Vorstellung, wer sich mit Reden befassen sollte und wie sie zu halten sind, in Rom signifikant: Nur Forum statt Schlachtfeld? Nur in der Praxis oder auch in der Theorie? Nur römisch oder auch griechisch? Stilistisch üppig oder eher schlank? Ausschweifende Gestik oder nicht? An der jeweiligen Beantwortung der Fragen zu unterschiedlichen Zeiten kann man ablesen, was den vir (sic!) bonus dicendi peritus ausmacht, und wie dessen Gegenteil konzipiert wird: Als Adjektiv wird hier gerne effeminatus genannt, als Personen Schauspieler oder Tänzer. Hier sieht man sehr deutlich, dass sich das ‚Mann-Sein‘ nur auf einen kleinen (den dominanten) Teil der Bevölkerung bezieht, und dass der Gegenentwurf weiblich konnotiert ist, selbst wenn dieser ebenfalls ausschließlich Männer umfasst.

DAV: Hatten Sie neben dem Standardlehrbetrieb schon Gelegenheit, im Schwerpunktbereich kompakt etwas anzusetzen, oder haben Sie den Aspekt auf die gerade vorliegende Materie angewendet? 

Prof. Dr. Rühl: Aktuell beschäftigt mich die Frage, welche Verbindungen es zwischen Identität und Mobilität in der Antike gibt und welche Vorstellungen davon der römischen Literatur zugrunde liegen und wie das bewertet wird.

DAV: Was zeichnet sich an einschlägigen Beobachtungen hierzu bisher ab?

Prof. Dr. Rühl: Zunächst einmal stellt man fest, dass die Mehrheit der Römer eigentlich kaum zu Hause ist (Militärdienst, Verwaltungsaufgaben in den Provinzen, Handelsgeschäfte, selbst die Karriere in Rom ist für jemanden aus Spanien mit Umzug verbunden …). Schaut man dann, ab welchem Zeitpunkt das Thema in der Literatur auftaucht, dann ist das schon in den Komödien des Plautus der Fall, wo Ankommen, Abfahren und Umziehen ein ständiges Thema ist – und die Ankunft eines Fremden oft soziale Mobilität auslöst, wenn z.B. dieser rein zufällig Beweisstücke vorbeibringt, die die in die Prostitution verschleppte meretrix als Tochter aus gutem Hause erweisen, die dann daraufhin prompt ‚heiratsfähig‘ wird. Die entscheidenden Handlungsimpulse werden hier interessanterweise fast immer von (freien) Männern gesetzt, deren Mobilität offenbar als selbstbestimmter konzipiert ist als die der Frauen. Denn auch wenn die junge Frau jetzt heiratsfähig ist und ihr die soziale Rückkehr gelungen ist, bleibt sie ja doch in der Fremde.

Dies trifft auch auf das Bild zu, das spätere Texte vermitteln, in denen die römischen Frauen häufig mit dem Ideal nicht nur der univira, sondern auch der domiseda assoziiert werden. Hieran schließt sich die Frage an, ob der Eindruck, den die Literatur diesbezüglich vermittelt, der historischen Wirklichkeit entspricht, oder ob man hier nur einen Ausschnitt sieht, der nur die Wahrnehmung (und vielleicht den Wunsch) eines bestimmten Teils der Gesellschaft spiegelt. Hier hoffe ich, in enger Zusammenarbeit mit den altertumswissenschaftlichen Nachbarfächern zu einer deutlicheren Vorstellung zu gelangen.

DAV: Welchen weiteren Themen und Fragen möchten Sie gern im Laufe der nächsten Jahre nachgehen?

Prof. Dr. Rühl: Ein weiteres anvisiertes Forschungsthema ist die Ästhetik von Gewalt und die damit verknüpfte Frage, ob die Darstellungen und der Blick auf Gewalt ebenfalls ‚gegendert‘ sind und falls ja, in welcher Weise.

Daneben interessiert mich die Frage, wie die neueren Erkenntnisse der Geschlechterforschung verstärkt in den Lateinunterricht einbezogen werden könnten. Ich erinnere nur daran, dass gerade der erste Kontakt der Schülerinnen und Schüler über die ‚typische‘ römische Familie läuft, die (abgesehen von den zwei Sklaven) frappierenderweise oft viele strukturelle Gemeinsamkeiten mit der modernen mitteleuropäischen Durchschnittsfamilie eines bildungsnahen Haushaltes aufweist …

Hier sind mehrere Workshops für Lateinlehrkräfte in Planung, die am Ende in eine Publikation münden sollen. Durch die Pandemie sind die Aktivitäten aber leider etwas ausgebremst worden.

DAV: Wie lassen sich nach Ihrer Einschätzung Ciceros Briefe wieder etwas stärker für die schulische Lektüre und hier vielleicht sogar besser als früher für die Verlebendigung von Augenblicksatmosphären und Tagesaktualitäten aufschließen?

Prof. Dr. Rühl: Die Frage mag nach den ganzen Ideen zur Geschlechterforschung etwas unvermittelt scheinen, aber ich habe natürlich auch noch andere Interessen als die Teildenomination meiner Professur suggeriert, dazu gehört Briefliteratur. Man hat Ciceros Briefe lange Zeit lediglich als Quellen für die politischen Umstände und Hintergründe gelesen, der Duktus der Briefe vermittelt ja auch geradezu den Eindruck, als handle es sich um kurze unmvermittelte Momentaufnahmen und man sei quasi live dabei. Dass es sich nicht um ungeschminkte Äußerungen handelt, sondern um eine komplementäre Medienstrategie zu den anderen Werken, hat die Forschung inzwischen zeigen können. Aber auch wenn man sie als Literatur betrachtet, verlieren sie natürlich ihren Charme der Unmittelbarkeit nicht. Hier ließen sie sich durchaus durch ihre thematische Vielfalt in vielen Bereichen (die meisten KC haben ja Bereiche wie Mensch/Politik/Gesellschaft) als Ergänzung oder Korrektiv zu anderen Texten lesen. Und es gibt einige davon (z.B. der Brief an M. Marius über die Eröffnung des Pompeiustheaters, fam. 7,1), die inhaltlich geschlossen sind und sich bestens eignen, um an ihnen zu demonstrieren, wie eine saubere Textanalyse einen ersten Leseeindruck souverän korrigieren kann …

DAV: Wo sehen Sie die Zukunft des Griechischen?

Prof. Dr. Rühl: Für eine ernstzunehmende inhaltlich wie zeitlich ausdifferenzierte altertumswissenschaftliche Forschungslandschaft, die sich zudem durch Methodenpluralität auszeichnet, ist die Gräzistik unverzichtbar. Und auch für den Unterricht in der Schule gilt: Es ist zwar alles ‚alt und fremd‘, aber Rom ist nicht Athen, und die griechische Literatur und Kultur hat hier ganz andere spannende Angebote zu machen als die römische. – Vielleicht sollten wir in Zukunft hier ausnahmsweise stärker die Differenz und die Eigenständigkeit des Griechischen betonen als die Zusammengehörigkeit, um den Mehrwert deutlicher zu machen.

DAV: Was möchten Sie uns abschließend noch mitgeben?

Prof. Dr. Rühl: Sollte jetzt die eine oder der andere Interesse an Fragen der Genderforschung entwickelt haben, so kann man mich gerne kontaktieren und für Workshops oder Vorträge für Lehrkräfte und/oder Oberstufenkurse engagieren. Soweit es der Terminplan zulässt, komme ich gerne. 

Frau Prof. Dr. Rühl, wir danken Ihnen herzlich für dieses Interview.