D. Galfré/Chr. Schubert (Hrsgg.), >Suétone narrateur<. Biographie und Erzählung in Vita Caesarum. Millenium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrhunderts. n. Chr. Bd. 106. De Gruyter. Berlin/Boston 2024, EUR 99, 95 (ISBN 978-3-11-133323-69.
Die Herausgeber des zu besprechenden Bandes, Edoardo Galfré und Christoph Schubert, haben acht Beiträge zusammengestellt, die auf „einer vom Institut für Alte Sprachen der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg organisierten und wegen der damals herrschenden Corona-Pandemie online“ durchgeführten Tagung gehalten wurden. Um den Titel >Suétone narrateur< einordnen zu können, muss man wissen, dass Jacques Gascou ein Opus herausgegeben hat, das mit >Suétone historien< betitelt ist (J. Gascou, Suétone historien. Rome 1984) und gemeinsam mit zwei anderen Publikationen (Barry Baldwin, Suetonius. The Biographer of the Caesars, Amsterdam 1983 und Andrew Wallace-Hadrill, Suetonius. The Scholar and his Caesars, London 1983) eine entscheidende Revision in der Einschätzung der Kaiserbiographien Suetons einleitete. In der sehr ausführlichen Einleitung, die beide genannten Herausgeber verfasst haben, steht Sueton als Erzähler im Vordergrund; E. Galfré und Chr. Schubert erläutern den aktuellen Forschungsstand und die methodischen Zugriffe, deren sich die Forscherinnen und Forscher bedient haben, und skizzieren in gebotener Kürze die Ergebnisse der Beiträge, wobei jeweils zwei Aufsätze einem Untertitel zugeordnet werden. Nach Aussagen der beiden Herausgeber basieren die Aufsätze auf einem Ansatz, „der auf den literaturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Interpretationsmitteln der Narratologie beruht“ (3). Sie möchten erreichen, dass mit der Studie ein Desiderat „zumindest ansatzweise“ gefüllt wird, nämlich die Art und Weise zu analysieren, „wie sich die genannten und weitere erzählerische Mittel der ganz besonderen Form und der auf den ersten Blick rigiden Struktur der Kaiserbiographien anpassen“ (4). Einige Forscherinnen und Forscher wenden sich unter anderem der Frage zu, welche Funktion die Doppel- und Mehrfacherzählungen in den Viten einnehmen. Es soll auch erörtert werden, wie die Kaiserviten in die „Gattungstradition(en)“ der griechisch-römischen Biographie eingeordnet werden können (5). Der Blick wird außerdem auf die Frage gerichtet, wie es Sueton gelingt, zwischen sich und dem Leser einen „Dialog“ „über den berichteten Sachverhalt“ herzustellen, „sei es durch die direkten Aussagen des Autors in erster Person, sei es indirekt durch eine Vielfalt an narrativen Mitteln, wie die besondere Stellung des zu berichtenden Stoffes, Wiederholungen, Kontrastierungen, Weglassungen, den Zusammenstoß widersprüchlichen Materials usw.“ (7). Am Ende der Einleitung findet sich ein Literaturverzeichnis mit wichtigen Titeln zur Forschungslage (16-17). Ein solches wird den Leserinnen und Lesern jeweils am Schluss eines jeden Beitrags angeboten.
Einige Beiträge werde ich ausführlicher besprechen, in den anderen Fällen werde ich zumindest die Autoren/Autorinnen und die Titel anführen, damit sich die Leserinnen und Leser selbst einen Überblick verschaffen können.
Der erste Block lautet: Erzählerische Variationen (19-59). Dennis Pausch (P.) liefert dazu den ersten Beitrag: „Audiatur er altera pars? Multiperspektivität als narratives Prinzip bei Sueton“ (21-39). Er leitet seine Überlegungen mit dem Hinweis darauf ein, dass ein konstitutives Element antiker Geschichtsschreibung Reden darstellen, mit denen es dem Biografen gelingen kann, eine „multiperspektivische Sichtweise“ zu präsentieren (21). Sueton allerdings verzichtet auf solche Reden; P. sieht diesen Verzicht „nicht mehr nur als Gewinn an Objektivität, wie man wegen ihres weitgehend fiktiven Inhaltes meinen könnte, sondern als Verlust an Ausgewogenheit, da auf diese Weise nur noch eine Seite zu Wort zu kommen scheint“ (22). Sueton wählt offensichtlich ein anderes Verfahren, um zwei unterschiedliche Perspektiven zu präsentieren. Dies gelingt ihm dadurch, dass er Rubriken gegenüberstellt; dadurch kommt es zwar zu Wiederholungen, die in der Forschung immer wieder kritisiert wurden, aber auch zu Kontrastierungen von Schilderungen (23ff.). P. arbeitet heraus, dass Sueton Gerüchte wiedergibt und damit ein weiteres Mittel der Perspektivierung benutzt (26ff.). Unterschiedliche und widersprüchliche Positionen zu unterbreiten schafft Sueton durch Quellenzitate anstatt in Figurenreden, die antike Historiographen sonst gerne in ihre Darlegungen einbauen. Am Ende seiner Analysen betont P., dass es zwei Betrachtungsweisen geben kann, wie man die von Sueton gewählten Verfahren für eine Multiperspektivität ansehen kann; ein entgegenkommender Blick auf die Viten Suetons lässt ihn als einen „methodisch reflektierten Autor“ erscheinen (37); „in einer weniger wohlwollenden Sichtweise lassen sich die gleichen Darstellungsstrategien aber auch als nur scheinbar offen und objektiv, in Wirklichkeit aber suggestiv und damit manipulativ verstehen, da es sicherlich keine neue Erkenntnis ist, dass wir alle dazu neigen, etwas eher für richtig zu halten, wenn wir den Eindruck haben, selbst darauf gekommen zu sein“ (37). Diese Auffassung verdankt P. Überlegungen von Michael von Albrecht, die er in seiner Literaturgeschichte geäußert hat (M. v. A., Von Andronicus bis Boethius. Mit Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die Neuzeit. Bd. 2. Bern/München 1992, 1116: „Als geschickter Psychologe suggeriert der Biograph Urteile, statt sie auszusprechen.“).
Den zweiten Beitrag im ersten Block präsentiert Verena Schulz (S.): „Suetons Doppelerzählungen als kreative Leerstellen“ (41-59). Um die These ihrer Untersuchung vorzubereiten beginnt sie mit der Information, dass Sueton den Tod des Kaisers Titus zweimal in seinen Viten erzählt. In der diesem Herrscher gewidmeten Lebensbeschreibung teilt Sueton mit, dass er an einem Fieber gestorben ist (Tit. 10-11); in der darauffolgenden Domitianvita erfährt man, dass „Domitian eine Mitschuld am Tod seines Bruders hatte." (41). Danach habe der Kaiser seinen Bruder „wie einen Toten im Stich gelassen, bevor er seine Seele ganz ausgehaucht hatte“ (Dom. 2, 3). S. konstatiert, dass die erste Version für die Leser „unvollständig oder irreführend“ war, der Leser müsse das Bild „von den beteiligten Akteuren“ revidieren (41). S. hält solche Doppelerzählungen für ein Merkmal von Suetons Komposition und untersucht eine derartige Vorgehensweise mit der Frage, welchen Eindruck sie auf den Leser auslösen (42). Sie greift dabei auf Konzepte der Rezeptionsästhetik und auf dem des Ereignisses zurück, um dann vier Typen von Doppelerzählungen zu analysieren. Sie orientiert sich an Vorstellungen von Wolfgang Iser zurück (W. I., Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976) und erläutert zunächst den Begriff ‚Leerstelle‘ (42), um dann darauf zu verweisen, dass die beiden zitierten Stellen zum Tode des Titus als Leerstelle zu begreifen sind (43). Da die genannten Stellen so kurz nacheinander dem Leser präsentiert werden, entstehe bei ihm das Bedürfnis, „das Verhältnis der Textsegmente zueinander zu bestimmen“ (43). Während W. Iser vor allem englische Romane analysiert und die Kategorie der Anschließbarkeit herangezogen hat und dabei „den Text als Sachtext fokussiert, der Inhalte argumentativ entwickelt und Informationen vermitteln möchte“, ist S. davon überzeugt, dass „die argumentative Entfaltung von Sachverhalten und die Darstellung von Informationen über gegebene Gegenstände wie den Tod eines Kaisers“ ein entscheidendes Element der Kaiserviten darstellen (43). Im Falle des zweiten genannten Begriffs, nämlich des Ereignisses, orientiert sich S. an Publikationen von Wolf Schmid und Peter Hühn (W. S., Mentale Ereignisse. Bewusstseinsveränderungen in europäischen Erzählwerken vom Mittelalter bis zur Moderne, Berlin/Boston 2017 und P. Hühn, „Event and Eventfulness, in: P. Hühn/J. C. Meister/J. Pier/W. Schmid (edd.), Handbook of Narratology, I, Berlin/Boston 22014, 159-178). Dabei können entsprechend den Vorstellungen der beiden genannten Forscher ‚Ereignisse‘ als „erzählenswerte tatsächliche (…) Veränderungen in der Erzählung, die abgeschlossen sind und sich durch Relevanz, Plötzlichkeit bzw. Unvorhersehbarkeit und Ungewöhnlichkeit auszeichnen“ (44), begriffen werden. Und in der Tat kann der Tod des Titus als „eine relevante, plötzliche und ungewöhnliche Veränderung in der Erzählung Suetons“ verstanden werden (44). S. differenziert bei ihrer Untersuchung vier Typen von Doppelerzählungen „nach dem inhaltlich-logischen Verhältnis der Textsegmente“ (44). Der erste Typ lässt sich dadurch charakterisieren, dass in der zweiten Erzählung ein Detail vorkommt, das dort besser passt als in der ersten. Es handelt sich gewissermaßen um eine Ergänzung. Dieser Typ ist nach Analysen von S. der häufigste (45). Ein Beispiel aus den Viten Suetons sind die Informationen des Autors über die militärischen Erfolge des Tiberius, die sowohl in der Augustusvita zu lesen sind als auch in der des Tiberius (Aug. 21.1-2; Tib. 9.1-2). Der zweite und seltenere Typ ist daran erkennbar, dass in der zweiten Erzählung eine Art Zusammenfassung geboten wird, wobei mehrere neue Details hinzutreten können (46). In der Caesarvita spricht Sueton an zwei Stellen von der Scheidung Caesars von Pompeia; dabei ist die zweite Erzählung erheblich umfangreicher (Iul. 6.2; Iul. 74.2). Beim dritten Typus wird eine Neubewertung vorgenommen; hier können die beiden Erzählungen in unterschiedlichen Rubriken platziert werden, wodurch eine Multiperspektivität erzielt wird (46ff.). Ein Beispiel dafür ist die Erzählung von Caligulas Brückenbau, einmal als Schauspiel (Cal. 22.1), ein zweites Mal in der Rubrik saevitia (Cal. 32.1), wo die Information geliefert wird, dass dies ein grausames Ereignis darstellt. Beim vierten Typus schließlich stellt sich in der zweiten Erzählung heraus, dass die erste „sachlich falsch oder irreführend“ war (50). Auch in diesem Fall präsentiert S. ein passendes Beispiel (Calig. 15.4; Calig. 30.2). Hierbei handelt es sich um ein Dokument, das in der ersten Fassung als verbrannt dargestellt wurde, in der zweiten Erzählung erfahren die Leser, dass eine Täuschung vorlag und das Dokument doch nicht vernichtet wurde (51). Durch die von Sueton gewählte Disposition der Doppelerzählungen wird die Aufmerksamkeit der Leser eingefordert, denn es handelt sich nachweislich um ästhetisch anspruchsvolle Texte.
Der zweite Block Tyrannenerzählungen (61-95) umfasst folgende zwei Beiträge: Nicoletta Bruno, „Suetonius on Tiberius‘ Misanthropy and Self-Reproach“ (63-81) sowie Alessio Mancini, „Nochmals Neros Tod: Aufbau und Intratextualität“ (83-95). Der dritte Block Im Labor des Erzählers (97-133) enthält folgende Beiträge: Margherita Fantoli, „Phrases à rallonge in Suetonius‘ De vita Caesarum: Communications Patterns“ (99-118) und Edoardo Galfré, „Zwischen Biographie und Dichtung. Zur Rolle der Literatur in Suetons De vita Caesarum“ (119-133). Dem vierten Block, der den Titel Mikro -und Makrostrukturen (134-181) trägt, haben die Herausgeber ebenfalls zwei Beiträge zugeordnet: Matthias Grandl, „Suétone micro-narrateur. ‚Aspekte‘ anekdotischer Erzählzeit in Suetons De vita Caesarum“ (137-161) und Robert Kirstein, „Mikronarrativik und Multiperspektivität in Suetons De vita Caesarum“ (163-181). Den Band beschließt der Index rerum (183-184).
Der letzte Beitrag von R. Kirstein (K.) enthält einige Fragestellungen, die in den vorhergehenden Aufsätzen thematisiert wurden. Zwei charakteristische Merkmale der Narrativik Suetons dienen dazu, seine besondere Erzählweise näher zu bestimmen; einmal lässt sich vor allem bei den Anfangsabschnitten einer jeden Vita eine Erzähleinheit erkennen (Mikronarrativ), die auf ein Ereignis konzentriert ist, zum anderen geht es darum, in welcher Weise die Multiperspektivität ausgeprägt ist. Exemplarisch erläutert K. seine Vorstellungen anhand der Viten zu Augustus (167-170), Nero (170-172) und Domitian (172-173). Er greift dabei auf ein Modell von M. - L. Ryan (The Modes of Narrativity and their Visual Metaphors, in: Style 26, 1992, 368-387) zurück, bei dem „zwölf verschiedene Kategorien von Narrativität“ unterschieden werden (166). Da Sueton in seinen Viten unterschiedliche Erzählstrategien auf komplexe Art und Weise miteinander verbindet, sind sie geeignet, „die Bezüge zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen auszuloten“ (178).
Michael von Albrecht hatte 1992 in seiner bereits zitierten Geschichte der römischen Literatur folgendes konstatiert: „Sueton gehört zu den römischen Autoren, die am stärksten fortgewirkt haben“ (1116). Daher war und ist es erforderlich und gerechtfertigt, dass sich die Forschung verstärkt der Analyse der Viten des Sueton widmet. Derselbe Heidelberger Forscher hat auch auf ein wichtiges bis dahin noch nicht gelöstes Problem hingewiesen, nämlich auf „die Bezogenheit der verschiedenen Lebensbeschreibungen aufeinander“ (1109). Dieses Problem wurde auf der Tagung der Universität Erlangen-Nürnberg behandelt, und dabei wurden bereits wichtige Lösungsvorschläge unterbreitet.
„Eines der wichtigsten Ergebnisse der vorliegenden Untersuchungen besteht genau darin, die Kaiserbiographien Suetons als ein Werk zu erfassen, welches die Fähigkeit des Lesers, das historische Geschehen und dessen Wiedergabe in biographischer Form zu interpretieren, in besonderem Maße herausfordert.“ (7).
Die Autorinnen und Autoren haben instruktive und gut lesbare Beiträge geliefert, auf die die zukünftige Forschung mit Gewinn zurückgreifen kann. Sie zeichnen sich auch darin aus, dass sie nicht additiv aneinandergereiht sind, sondern aufeinander Bezug nehmen, insbesondere der letzte Beitrag bündelt einige interessante Aspekte.
Rezensent: Dietmar Schmitz

» zum Archiv: Neuerscheinungen des Monats