Peggy Leiverkus, Essensdarstellungen in Ovids Metamorphosen, Wuppertal: Polyphem-Verlag 2021 (Studia Montana) – 449 S. – ISBN 978-3-96954-003-9

Mit Peter Paul Rubens’ Jupiter und Merkur bei Philemon und Baucis als Covermotiv lädt Peggy Leiverkus ihre Leser*innen zu einer der bekanntesten Gastmahlszenen der römischen Literatur, gleichzeitig zu einer von vier ovidischen Essensschilderungen ein, die im Zentrum ihrer ebenso ausführlichen wie grundlegenden Monographie stehen. Dem, was sie ‚anrichtet‘ und ‚auftischt‘, liegt die von Stefan Freund betreute, von Christoph Schubert zweitbegutachtete und 2019 an der Bergischen Universität Wuppertal angenommene Dissertation der Verfasserin zugrunde. Besondere Erwähnung verdient die Wahl von Publikationshaus und -ort: Der noch junge Wuppertaler Polyphem-Verlag (https://www.polyphem-verlag.de/) gehört Peggy Leiverkus und ihrem Mann Patrick, der es übernommen hat (9) „[a]us dem Manuskript ein Buch zu machen, […] eine Kunst und bisweilen eine Plage.“ Das Resultat kann sich sehen lassen: Mit Liebe zum Detail, entwickeltem Fachwissen, philologischem Gespür und ohne je die großen Linien aus dem Blick zu verlieren, konzentriert sich die Autorin in vier ausgewogenen Kapiteln werkchronologisch auf aussagekräftige Passagen von sehr unterschiedlicher Länge aus den Metamorphosen. Sie setzt mit „Paradies oder Entbehrung? – Ovids goldenes Zeitalter (met. 1, 101-112)“ in der aurea aetas ein (unter Einbezug von Vergil, Horaz und Tibull), präsentiert „Römische pietas in drei Gängen – das Gastmahl bei Philemon und Baucis (met. 8, 626-724)“, wirft die im Gedächtnis bleibende Frage „Erdbeeren statt Menschenfleisch? – Polyphems Liebesgaben (met. 13, 812-837)“ auf und handelt schließlich „Über den Frevel des entarteten Bauches – die Rede des Pythagoras (met. 15, 75-478)“.

Dabei stellt Peggy Leiverkus überzeugend und nachvollziehbar Bezüge kompositorischer und inhaltlicher Natur zwischen den Episoden her und macht durchgehend die Rückbindung an mögliche Vorläufer und deren Einflüsse, aber auch Ovids ganz eigene Technik sichtbar: So liefert sie für das Goldene Zeitalter einen literaturgeschichtlichen Abriss von Hesiod bis Lukrez und eine kulturgeschichtliche Darstellung zu Weltaltermythen (Deszendenz, Aszendenz, Dialektik), verortet Philemon und Baucis motivgeschichtlich im Komplex der Theoxenie von der Genesis (mit hebräischem Text 166, nn. 21-22) über die griechische Literatur bis zu weiteren ovidischen Beispielen (aus den Fasti), präsentiert die verschiedenen ‚Polypheme‘ von Homer bis Nikochares zzgl. Schwerpunkt auf Theokrit und Vergil und gibt einen umfassenden Überblick über die Vegetarismusdebatte (mit Konzentration auf Empedokles und Theophrast). Nicht weniger als 23 Tabellen und (z.T. auch farblich) visuell hervorgebobene parallele Formulierungen ermöglichen den mühelosen Nachvollzug der Vielfalt des Gebotenen. Der weitgehend analoge Aufbau der vier Großkapitel und zahlreiche Rück- und Vorverweise unterstützen bei der raschen und zielgerichteten Orientierung in der umfangreichen Studie. Ein reichhaltiges und gut sortiertes Literaturverzeichnis und ein umfangreicher Index locorum (alphabetisch sortiert von Antiphanes bis Xenophanes) sind essentielle Hilfsmittel, die zugleich Einblick in den breiten Horizont der Verfasserin geben, aus dem – abgestimmt auf das Generalthema der Arbeit – eine systematische inhaltliche wie sprachliche, zuweilen auch textkritische Analyse in gut verdaulichen Portionen resultiert.

Als eine Art ‚Aperitif‘ ist dem ‚Hauptgang‘ – den vier Kapiteln zu den Metamorphosen – eine ‚Vorspeise‘ vorgeschaltet. Zu diesen ‚Appetizern‘ gehören neben dem erfrischenden Motto aus Herbert Grönemeyers Currywurst (11) „Gehse inne Stadt | Wat macht dich da satt | ’Ne Currywurst | Kommse vonne Schicht | Wat Schönret gibt et nich | Als wie Currywurst“  und konzisen „Vorbemerkungen“ (von Petron bis zum Epos) zunächst „Essensdarstellungen als Thema in der römischen Literatur“ (von Plautus bis Plinius). Es folgen ein ausführlicher „Forschungsüberblick“ (darunter „Soziologische und anthropologische Grundlagen“, „Forschungsansätze zum Essen und zur Ernährung in der Antike“, „Soziokulturelle Faktoren von Essen in der römischen Welt“ und „Essen als literarisches Motiv“) und eine Abrundung durch „Darstellungen von Essen in den Metamorphosen“, die Peggy Leiverkus wie ihre ganze Untersuchung als streng „[s]ystematische[n] Überblick“ anlegt.

Die Fülle des Materials bedingt es, dass manche Fußnote gleichsam Spezialstudien, wesentliche side steps zu den klugen Beobachtungen im Haupttext, enthält (z.B. 79-80, nn. 57-58 zu Empedokles und Hesiod). Desgleichen finden sich passim ausführliche Volltextzitate in den Fußnoten, die den Lesefluss der Interpretation unterbrechen würden, aber unerlässlich sind für ein möglichst vollständiges Erfassen der komplexen Materie. Somit besticht Peggy Leiverkus’ Arbeit neben neuen und stringent argumentierten Sichtweisen auf scheinbar bekannte (und vielleicht schon als ausinterpretiert angesehene) Episoden der Metamorphosen durch ein wohldosiertes Verhältnis von Kern- und Zusatzinformation – eine (Appetit)anregung zu Anschlussforschung. Wenn das so umgesetzt ist wie hier, dann dürfen Fußnoten durchaus beträchtliche Länge aufweisen.

Ovidische Spezifika sind kontinuierlich in kritischer Auseinandersetzung mit der (oft nahezu unüberschaubar gewordenen) Sekundärliteratur herausgearbeitet, zumal gerade im die Verfasserin besonders interessierenden Themenspektrum das weite Feld des Agrarwesens – Ackerbau ebenso wie Viehzucht –, aber auch die (allein schon terminologisch nicht immer unkomplizierten) Fachbereiche von Botanik und Zoologie in extenso zu berücksichtigen sind. Hiezu zieht sie gewinnbringend die entsprechende (landwirtschaftliche und enzyklopädische) Fachliteratur (v.a. Varros De re rustica, aber auch Plinius’ Naturalis historia) heran.

Nach der anregenden und abwechslungsreichen Lektüre von Peggy Leiverkus’ ‚Speisekarte‘ ist man Spezialist*in für Kornelkirschen, Erdbeerbäume (im Unterschied zu den [Wald]erdbeeren) und  herbae (mit einer umfangreichen Begriffsgeschichte 126-128, n. 288). Man ist informiert über (überwiegend negativ eingestufte oder verhinderte) Tieropfer – Pythagoras macht sich mit Verve, Emotionalität und philosophischen Argumenten zum Anwalt der Mitgeschöpfe, die Gans von Philemon und Baucis darf weiterleben wie einst (zumindest zwischenzeitlich) der Widder des Molorchos in Kallimachos’ Aitia. Weiters wird man unterrichtet über die Lagerung von Schweinespeck und Dörrfleisch, über Eicheln (als [tierisches] Nahrungsmotiv) und über die Zubereitung von in Asche gegarten Eiern (mit einem doppelten Verweis auf Martial, der sich hiebei ausschließlich an Ovid anlehnt: 203, n. 199). Schließlich lernt man simple und gerade deswegen köstliche Gerichte kennen und erfährt so manches über anerzogenen Geschmack, der von der jeweiligen gesellschaftlichen Schichtenzugehörigkeit, aber auch vom finanziellen Vermögen abhängt – eine Vorform (oder Spielart) des Gegensatzes von Glutamat, Palmöl und künstlichen Aromen auf der einen und Bio-Nahrungsmitteln auf der anderen Seite. Man kann sich – um im Bild zu bleiben – durch die ganze Palette, sozusagen ab ovo usque ad mala, durchkosten oder (nur) einzelnes probieren: Das ‚Geschmackserlebnis‘ wird ein bleibendes sein.

Als Leser*in von Peggy Leiverkus erfährt man (oder fühlt sich darin bestätigt), dass Ovid vielfach multiperspektivisch, v.a. aber gegen den mainstream gelesen werden will: Sein Konzept der aurea aetas ist nicht (im naturwissenschaftlichen Sinn) eineindeutig; zivilisatorischer Fortschritt und Sehnsucht nach der ‚guten alten Zeit‘ (oder dem, was man darunter verstehen wollte) stehen gleichberechtigt nebeneinander; Ernährung hat durchaus mit (recht eindeutig römischer oder romanisierter) Moral(isierung) zu tun, wenngleich Ovids Essensdarstellungen aufgrund ironischer Brechung und damit einhergehender Distanzierung mehrdeutig bleiben (375): „Offenbar hat er sich bewusst dafür entschieden, sich auf dieses politisch aktuelle Feld zu begeben, aber auch dafür, nicht eindeutig Stellung zu beziehen.“ (Das hat u.a. den positiven Effekt, dass erhitzte wissenschaftliche Diskussionen darüber, ob Ovid im Gefolge des Pythagoras als eine Art Protovegetarier oder -veganer gesehen werden kann, vergnügt weitergehen dürfen und im Sinne des Meinungspluralismus und der akademischen Streitkultur die [philologische] Disziplin voranbringen.) Zudem erweist die Verfasserin Ovid als Meister der Gattungsmischung: Polyphems einseitig bleibende Liebe zu Galatea weist Schnittflächen zur (vergilischen) Bukolik auf, ist doch auch der einäugige Riese Hirte – im übrigen ein sehr römischer im Vergleich zu den griechischen Darstellungen. Ovids flirrende Doppelbödigkeit und ebenso psychologisierende wie genderspezifische Darstellung zeigt sich an der bestechenden Gegenüberstellung von Polyphems und Galateas abweichenden, v.a. aber völlig inkompatiblen Sichtweisen auf (gutes) Essen (290–291); daraus resultieren Missverständnisse, die wechselseitiges Verstehen und Verständnis verunmöglichen – und nicht zuletzt sind Bezugspunkte zur Satire vorhanden (372): „Das Gastmahl von Philemon und Baucis ist ein auf die Spitze getriebenes Musterbeispiel römischer frugalitas und pietas, Polyphem ist ein barbarischer Gourmet, Pythagoras ein wütender Moralapostel.“

Zutreffende Zuspitzungen wie diese – allesamt in den „Schlussbemerkungen“, sozusagen der ‚Nachspeise‘ – bleiben in Erinnerung und regen zum Nachdenken über die unzähligen Facetten an, die Peggy Leiverkus in großer Belesenheit und mit Feingefühl für den (Sub)text en détail interpretiert. „Essensdarstellungen in Ovids Metamorphosen“ werden ausschließlich über „Books on Demand, Norderstedt“ geliefert. Dem geschmackvollen Buch ist zu wünschen, dass dieses ‚Lieferservice‘ von möglichst vielen literarisch (und sozial- und kulturhistorisch interessierten) Gourmets in Anspruch genommen werden möge.

[cf. Wiener Studien – Rezensionen 134 (2021), 123-124 =  https://doi.org/10.1553/wst_134]

Sonja Schreiner

Institut für Klassische Philologie, Mittel- und Neulatein
Universität Wien
Universitätsring 1
A-1010 Wien 
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