Späth, Th. (Hrsg.) (2021), Gesellschaft im Brief. Lire la société dans la lettre. Ciceros Korrespondenz und die Sozialgeschichte/La Correspondance de Cicéron et l’histoire sociale. Collegium Beatus Rhenanus Bd. 9. Franz Steiner Verlag: Stuttgart. 430 S., EUR 72,- (ISBN 978-3-515-13095-0).

Die annähernd 1000 Briefe an und von Cicero bilden ein besonderes Quellenkorpus. Über keine andere Person der Antike gibt es mehr Selbstzeugnisse, die immer wieder Gegenstand der Forschung waren und sind. Vor allem im 19. Jahrhundert wurden die Aussagen in den Briefen Ciceros Textstellen aus anderen Schriften desselben Autors gegenübergestellt und vermeintliche Defizite und Umstimmigkeiten konstatiert. Die Verfasser der Beiträge des zu rezensierenden Bandes wählen einen anderen Zugriff auf die Interpretation der Briefe Ciceros. Im ersten Beitrag (Sozialgeschichte und Ciceros Korrespondenz als Chronotopos, 9-25) versucht der Herausgeber des Bandes, Thomas Späth (S.), in knappen Strichen die Zielsetzung des Buches zu beschreiben. Die Besonderheit liegt darin, dass sich 2009 ungefähr „dreißig AlthistorikerInnen, ArchäologInnen und PhilologInnen (…) der Universitäten Basel, Bern, Freiburg i. Br., Mulhouse und Strasbourg an einer Tagung des Collegium Beatus Rhenanus mit sozialhistorischen Forschungstraditionen auseinander“ (10) gesetzt haben. Daraus entwickelte sich ein Forschungsprojekt, aus dem mehrere Publikationen entstanden. Das Projekt trägt den Titel: „Sozialgeschichte und histoire culturelle: Perspektiven einer neuen römischen Sozialgeschichte – Sozialgeschichte et histoire culturelle: vers une nouvelle histoire sociale de l’Antiquité romaine“ (10). S. erinnert daran, dass die historisch-anthropologischen Ansätze, die seit mehr als sechs Jahrzehnten in Frankreich, Deutschland und Italien existieren, keinen Niederschlag in der traditionellen Sozialgeschichte gefunden haben. Es werden weitere Defizite und Desiderate genannt, an denen das Projekt ansetzt. Betont wird, dass es zu einem produktiven Austausch von Wissenschaftlern verschiedener Länder mit verschiedenen Forschungstraditionen kommt. S. macht darauf aufmerksam, dass der Ausgangspunkt der Analysen der beteiligten Forscher „die gesellschaftlichen Praktiken sind, die auf durch sie konstituierte Gruppierungen von Akteuren genauso wie auf Beziehungen unter ihnen hin ausgewertet werden; diese Praktiken sind in ihren situativen Dispositionen (d. h. in Räumen wie domus oder urbs, historischen Sachlagen wie Konflikten oder Gewalt, kollektiven Rahmen wie Familie oder politischen Strukturen) zu erfassen und auf ihre materiellen und symbolischen Bedingungen (ökonomische und ökologische Voraussetzungen, kollektive Vorstellungen von Identität, Vergangenheit, Geschlecht) zu prüfen“ (11). Die als abstrakte Untersuchungsanlage erarbeitete Matrix wurde von verschiedenen Forschern auf die Briefe Ciceros angewandt. S. erläutert ebenfalls, warum sich gerade das Briefkorpus des berühmten römischen Redners anbot (12-13). Der neue Zugriff auf die Korrespondenz Ciceros kann nach Aussagen von S. „den Blick auf die Zusammenhänge gesellschaftlicher Praktiken öffnen“ (13). Die am Projekt beteiligten Wissenschaftler „formulieren den literaturtheoretischen Begriff des Chronotopos neu für“ ihre „historische Problemstellung“ (14). Des Weiteren stellt S. kurz die drei Kapitel und ihre jeweiligen Beiträge vor. Am Ende des einführenden Aufsatzes finden sich wichtige bibliographische Hinweise, genauso wie es bei den anderen Essays praktiziert wird. Der zweite Beitrag im Einführungsteil stammt von Jürgen von Ungern-Sternberg, der auf die Leistungen von drei Forschern eingeht, die wichtige Stationen in der Tradition der Sozialgeschichte darstellen, nämlich die wissenschaftlichen Leistungen von Gaston Boissier, Matthias Gelzer und Eugen Täubler (Drei Beiträge zu einer römischen Gesellschaftsgeschichte, 27-58). Diese Ausführungen sind sehr lesenswert und informativ, so dass die Leserinnen und Leser die großen Traditionslinien der Sozialgeschichte besser einordnen und auch die neuen Ansätze des Projekts begreifen können.

Danach folgen die drei Kapitel, die jeweils aus vier Beiträgen bestehen. Das erste Kapitel trägt den Titel: Nouveaux objets – Forschungsgegenstände (61-158), das zweite ist folgendermaßen überschrieben: Nouveaux problèmes – Problemstellungen (161-250), die Überschrift des dritten Kapitels lautet: Nouvelles approches – Ansätze (251-402). Am Ende des Buches gibt es Informationen über die Autorinnen und Autoren (403-405), über die Textausgaben, Übersetzungen und Referenzen (407-408); daran schließen sich der Index locorum (409-424) sowie der Index nominum an (425-430). Im Rahmen dieser Rezension ist es nicht möglich auf alle Beiträge näher einzugehen. Daher habe ich einige wenige Aufsätze ausgewählt, die ich einer genaueren Betrachtung unterziehe.

Im ersten Kapitel befassen sich die Analysen mit dem Bild, das Cicero im Briefwechsel mit seinen Partnern bezüglich seiner politisch-gesellschaftlichen Stellung von sich selbst entwirft. Gemäß den Vorgaben des Chronotopos steht die Situierung in Räumen und in der Temporalität „um den metaphorischen Raum der magistratischen Aufgaben im konkreten Raum der Provinz, um die Bedeutung des urbanen Raums, aus dem das Exil den Protagonisten ausschließt, um die Handlungsräume aristokratischen Wohnens und um Beziehung dieser Räume mit der Temporalität der Spannung zwischen Gegenwart und Vergangenheit“ (16) im Vordergrund. Im ersten Beitrag, der aus der Feder von Marianne Coudry (C.) stammt, werden Briefe aus den Jahren 51-50 v. Chr. behandelt, als Cicero Statthalter von Kilikien war; in diesen Briefen konstruiert Cicero das Bild eines exemplarischen Statthalters (La construction de la figure du gouverneur exemplaire, 65-73). Bei der Erstellung eines Selbstbildes ist dem Verfasser der Briefe offensichtlich sehr bewusst, dass neben den „eigentlichen“ Adressaten wie Atticus, Appius Claudius Pulcher, sein Vorgänger im Amt, und die Senatoren „die sekundären Rezipienten zu den impliziten LeserInnen des Schreibenden gehören“ (16); auf diese Weise gelingt es dem homo novus, seine Stellung im sozialen Feld der Senatsaristokratie darzustellen. C. formuliert folgendermaßen, bezogen auf den Brief fam. II 13,2 (81): « Tant le contenu que le ton de cette lettre sont strictement semblables à ceux des lettres que Cicéron adresse lui-même à Appius, et cela laisse penser qu’elle n’était pas destinée au seul Caelius, mais aussi à Appius et sans doute à un cercle plus large, qu’il fallait convaincre du souci qu’avait Cicéron de conserver l’amitié de son prédécesseur » (Sowohl der Inhalt als auch der Ton dieses Briefes sind den Briefen überaus ähnlich, die Cicero selbst an Appius adressiert hat, und dies lässt daran denken, dass der genannte Brief (fam. II 13,2) nicht nur an Caelius gerichtet war, sondern auch an Appius und zweifelsohne an einen größeren Kreis, den er von der Sorge überzeugen musste, die Cicero damit hatte, die Freundschaft zu seinem Vorgänger zu bewahren). Nach C. führt dieses Beispiel zu der Frage der Verteilung dieser Briefe; sie ist davon überzeugt, dass sie in zahlreiche Hände gelangten und mehrmals kopiert wurden. Sie hat den Eindruck, dass man sich in einem Netzwerk befindet, in dem Informationen ausgetauscht wurden, das aber für uns heute weitgehend nicht greifbar, ja sogar hermetisch verschlossen ist (81).

Von großem Interesse sind auch die Ausführungen von Laura Diegel (Selbstbildnisse eines Exilierten. Ich-Narrative Ciceros in den Briefen aus dem Exil und danach, 91-113), die sich vorwiegend den Briefen aus der Zeit des Exils (58-57 v. Chr) widmet. Ein weiterer Beitrag befasst sich mit den Gärten in den Briefen Ciceros und gelangt zu einer veränderten Sicht auf bisher vermeintlich feststehende Erkenntnisse (Ilse Hilbold, Les horti de Rome, «une maison comme les autres»? Pratiques résidentielles aristocratiques dans la correspondance de Cicéron, 115-129). Die zeitliche Dimension im Rahmen des Chronotopos stellt Michel Humm in den Fokus seiner Überlegungen, wenn er das Verhältnis von Sozialbeziehungen und Allusionen auf die römische Geschichte in den Briefen herausarbeitet (Évocations historiques, représentations du passé et autoreprésentation dans la correspondance de Cicéron, 131-158).

Im zweiten Kapitel thematisiert Jan B. Meister das Verhältnis zwischen dem homo novus Cicero und der römischen Aristokratie (161-178). Franziska Reich setzt sich mit dem Faktum auseinander, dass ein Distinktionsmerkmal darin bestand, sich nicht nur literarisch zu betätigen, sondern einen intensiven Austausch von Texten zu pflegen und sich gegenseitig Werke zu widmen (Quod rogas ut mea tibi scripta mittam quae post discessum tuum scripserim : envois littéraires et pratiques de communication dans la correspondance de Cicéron, 179-201). Über Rechtsfragen im Zusammenhang mit familiären Angelegenheiten reflektiert Ann-Cathrin Harder („Wenn wir noch eine res publica hätten…“ – Familie, domus und die Grenzen des pater familias in Ciceros Briefen, 203-221). Im vierten Beitrag stehen Diffamierungen im Vordergrund (Anabelle Thurn, Improbare animum adversari. Invektivisches in Ciceros Reden und Briefen, 223-250).

Das dritte Kapitel umfasst Beiträge, in denen Themen angesprochen werden, die bisher in der Forschung nicht im Zentrum standen, sondern eher marginal behandelt wurden, wenn überhaupt. Im ersten Aufsatz werden medizingeschichtliche Aspekte angesprochen und Fragen der gesellschaftlichen Konsequenzen von Krankheiten thematisiert (Manuela Spurny, Omnia a te data mihi putabo, si te valentem videro – Tiros Beziehung zu Cicero während seiner Krankheitsphasen aus sozial- und medizingeschichtlicher Sicht, 253-280). Die Autorin, Ärztin und Klassische Philologin, hat vor allem die Briefe des sechzehnten Buches der Epistulae ad familiares erforscht, die bis auf eine Ausnahme an Tiro adressiert sind, den Cicero bekanntlich im Jahr 53 v. Chr. aus dem Sklavenstand befreite. Hauptsächlich geht es in vielen behandelten Briefen um den Krankheitszustand Tiros sowie um tagespolitische Fragen. Aus den Angaben dieser Briefe haben Forscher geschlossen, dass Tiro an Malaria gelitten hat. Natürlich ist es schwierig, 2000 Jahre später eine genaue Diagnose abzugeben. Im Falle der Pest, wie sie bei Thukydides beschrieben ist, konnte Karl-Heinz Leven (L.), Medizinhistoriker und Arzt, die Grenzen der Möglichkeiten klar darlegen, noch in der heutigen Zeit klare Diagnosen anhand der Angaben des griechischen Historikers vorzunehmen (K.-H. Leven, Thukydides und die „Pest“ in Athen, in: Medizinhistorisches Journal 26,1991,128-160). Orientiert an den Ausführungen dieses Aufsatzes von L. untersucht M. Spurny (S.) das Briefkorpus Ciceros, um eine sogenannte Verdachtsdiagnose zu präsentieren, die nicht mit einer endgültigen Diagnose verwechselt werden darf. Ich möchte die Ausführungen, die ich für überzeugend halte, nicht bewerten, da ich kein Mediziner bin. Vielmehr ist folgendes zu bedenken: Im weiteren Verlauf ihrer Darlegungen analysiert S. „die Briefe an Tiro im Spiegel antiker Brieftheorie“ (264-269) und klärt „Tiros Verhältnis zu Cicero während seiner Krankheitsphasen“ (269-276). Dabei vermag S. herauszuarbeiten, dass der berühmteste Redner Roms mehrfache Ziele mit seinen Briefen an Tiro verband. Sie waren nicht nur an seinen libertus gerichtet, sondern offensichtlich von vornherein für eine Veröffentlichung vorgesehen. Cicero präsentiert sich einerseits als treusorgender pater familias und stellte sich damit in die Tradition des älteren Cato (Plinius, nat. XXIX 15), andererseits gelang es ihm, sich als idealen Politiker zu zeigen. Auch die Gefühle, die Cicero in den Briefen für Tiro bekundet, sollte man nicht für bare Münze nehmen, was natürlich auch nicht bedeuten soll, „dass er Tiro gegenüber gleichgültig war oder ihn lediglich als wertvollen Helfer im Alltag betrachtete“ (277/278). S. hat auf wichtige Sekundärliteratur zurückgegriffen, sie hätte mit Gewinn auch das Lexikon von L. heranziehen können (K.-H. Leven, Antike Medizin. Ein Lexikon. München 2005). Im nächsten Beitrag geht Simone Berger Battegay (B.) einem Sujet nach, das in der bisherigen Forschung immer wieder untersucht wurde, nämlich Ciceros Meinung über die Griechen (Dies., Cicero, die Griechen und das Fremde in mikrogeschichtlicher Perspektive, 281-313). Der traditionellen Haltung, die darin bestand den Nachweis zu erbringen, dass Cicero entweder eine negative oder eine positive Position gegenüber den Griechen einnahm, setzt B. einen neuen Ansatz entgegen, nämlich den Briefen Ciceros mit Hilfe einer mikrohistorischen Lektüre näher auf den Grund zu gehen. Sie nimmt zunächst Stellung zu den Ergebnissen der älteren Forschung (282-286), um dann ihren Zugriff vorzustellen und den Leserinnen und Lesern zu erläutern. Ein Vorteil bei dieser Methode ist sicherlich, dass nicht wie bisher auf die Leistungen bedeutender Individuen geschaut wird, sondern dass Aspekte „der unbedeutenden Seite des Lebens“ beachtet werden (287). Diese Individuen waren ebenfalls an der Gestaltung der historischen Wirklichkeit beteiligt und verdienen Aufmerksamkeit. B. erklärt den methodischen Zugriff folgendermaßen: „Um diesen epistemologischen Anspruch zu erfüllen, verkleinern die Mikrohistorikerinnen und -historiker den historischen Ausschnitt geographisch, personenbezogen und/oder zeitlich. Sie betrachten das so abgesteckte Feld gleichsam durch eine Vergrößerungslinse und richten ihre Untersuchung auf die lebensweltliche Ebene des Wahrnehmungsradius der einzelnen historischen Subjekte“ (287). Die letzten beiden Aufsätze stellen einmal das Thema Trauer (Susanne Froehlich, Zerrissen Fäden? Der Austausch über Trauerfälle und die Komplexität des sozialen Netzwerks in Ciceros Briefen, 315-344), dann Geschlechterfragen (Th. Späth, Geschlecht und Epistolographie. Männlichkeit in Ciceros Briefen des Sommers 44, 345-402) in den Vordergrund.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Autorinnen und Autoren auf aktuelle theoretische und methodologische Ansätze der historischen Anthropologie zurückgreifen und dadurch die Möglichkeit schaffen, die römische Sozialgeschichte unter neuen Blickwinkeln weiterzuentwickeln. Hervorzuheben ist die intensive Kooperation unter den deutsch- und französischsprachigen Forschern der Universitäten im Raum Basel, Freiburg/Br., Mulhouse und Strasbourg. So gelingt es ein vielfältiges Bild des gesellschaftlichen Alltags im 1. Jahrhundert v. Chr. zu entwerfen.

Rezensent: Dietmar Schmitz

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