Spielhofer, L., Babrios. Ein Interpretationskommentar zu den Prologen und Fabeln 1 bis 17. Franz Steiner Verlag: Stuttgart 2023. Hermes Einzelschrift Bd. 125. EUR 66,- (ISBN 978-3-515-13515-3).                                 

Die Forschung rechnet den Fabeldichter Babrios üblicherweise nicht zu den Autoren der traditionellen antiken Literatur, er gehört damit auch nicht zum Kanon der Schriftsteller, die in Schule und Universität gelesen werden. Albrecht Dihle nennt in seinem Überblickswerk (Griechische Literaturgeschichte, Stuttgart 1967) diesen Dichter mit keinem Wort, dagegen erwähnt Martin Hose ihn in seiner Literaturgeschichte mit einigen Sätzen (Ders., Kleine griechische Literaturgeschichte. Von Homer bis zum Ende der Antike. C. H. Beck Verlag: 1999, 164-165) und schneidet Detailfragen an, mit denen sich die heutige Forschung beschäftigt. Der Münchner Klassische Philologe Niklas Holzberg hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem Fabeldichter Babrios den ihm zustehenden Platz einzuräumen. Er beklagt in der Einführung zu seiner zweisprachigen Ausgabe des Babrios (Ders., Babrios, Fabeln. Griechisch-deutsch. De Gruyter, Sammlung Tusculum: Berlin/Boston 2019, 9-47) mit voller Berechtigung die Geringschätzung dieses Dichters seitens der Gräzistik: „In der gesamten Weltliteratur dürfte es keinen Autor von hohem künstlerischem Rang geben, der von der zuständigen Wissenschaft (…) so hartnäckig vernachlässigt (ja im Grunde ignoriert) wurde wie der besonders durch sein Erzähltalent und seinen skurrilen Witz faszinierende Fabeldichter Babrios“ (Holzberg, 9). Lukas Spielhofer (S.) unternimmt es in seiner Grazer Dissertation mit großem Engagement, zentrale Fragen der Babriosforschung aufzugreifen und den Diskurs zu beleben. Er bereitet den ausführlichen Kommentarteil systematisch vor, denn vor der Interpretation der beiden Prologe und der ausgewählten Fabeln ist es von entscheidender Bedeutung, grundlegende Fragen zu klären, damit die Leserinnen und Leser die Überlegungen des Interpreten nachvollziehen können.

Bereits in der Einleitung (1. Kapitel, 9-11) schneidet S. einige wichtige Einzelheiten an; so weist er daraufhin, dass die Erstausgabe der Mythiamboi, eine Sammlung griechischer Versfabeln, 1844 in Paris publiziert wurde. Er beklagt ebenso wie der bereits erwähnte Niklas Holzberg, dass die Fabeln des Babrios in den letzten 180 Jahren kaum beachtet wurden. Die Lage bei einem anderen bedeutenden Fabeldichter, nämlich dem Römer Phaedrus, ist da deutlich günstiger einzuschätzen, nicht zuletzt aufgrund intensiver Forschungen von Ursula Gärtner. Inzwischen liegen von ihr zu den ersten drei Büchern der Phaedrusfabeln Interpretationskommentare vor. Im zweiten Kapitel liefert S. interessante Informationen über den Dichter, sein Werk und die Überlieferung (12-36). Da wir über Babrios fast nichts wissen, stellt S. zu Beginn des Kapitels folgendes lapidar fest: „Dem Autor der Babriosfabeln ein eigenes Kapitel zu widmen, stellt ein kühnes, ja fast hoffnungsloses Unterfangen dar. Wir haben es im Falle der Fabelsammlung im wahrsten Sinne mit einem auteur mort nach Roland Barthes zu tun“ (12). Insofern ist es auch sehr schwierig, das Werk und seinen Autor genau zu datieren. Die Vorschläge bieten einen zeitlichen Rahmen vom dritten vor- bis in das dritte nachchristliche Jahrhundert (12). Die Widmungen in den beiden Prologen helfen nicht weiter; im ersten Prolog spricht der Erzähler eine Person an, die sich historisch nicht einordnen lässt: ὦ Βράγχε τέκνον, im zweiten wendet er sich an einen gewissen Alexander: βασιλεὺς Άλέξανδρος. Auch dieser ist historisch nicht fassbar. Eine Mehrheit der Forscherinnen und Forscher setzt die Publikation der Sammlung auf das erste bzw. zweite Jahrhundert n. Chr. an, einige plädieren für das dritte Jahrhundert und vermuten die Zeit der Severer (12/13). S. hat natürlich auch einen Blick auf die antiken Quellen geworfen; in einem Brief des Kaisers Julian aus dem Jahr 362 werden die Fabeln des Babrios zum ersten Mal genannt, ebenso in der Praefatio zur Fabelsammlung Avians (um 400 n. Chr.). S. führt weitere Textzeugen an, die aber alle keine genaue Datierung zulassen. Daher liegt es nahe, sprachliche und stilistische Eigenheiten der Texte des Fabeldichters zu prüfen. Einige Anhaltspunkte sprechen für eine Einordnung in die Kaiserzeit, und zwar in die Zeit der Zweiten Sophistik. Babrios bedient sich der Koine „mit ionischen Einflüssen“, daneben lassen sich nachklassische Phänomene sowie die Verwendung von Neologismen beobachten. Letztendlich glaubt S. an eine Entstehungszeit, die im zweiten, eher noch in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts anzusetzen ist (15). Auch aus den Fabeln selbst können keine gesicherten Fakten bezüglich der genauen Lebenszeit des Dichters erschlossen werden. Ebenfalls über das Einflussgebiet des Fabeldichters können nur Vermutungen angestellt werden; manches spricht für das Gebiet des heutigen Syrien, zumindest für das östliche Mittelmeergebiet (18). S. hat die vorhandenen Angaben genau geprüft und möchte sich nicht an Spekulationen beteiligen.

Im ersten Unterabschnitt von Kapitel zwei erläutert er den Überlieferungsstand der Mythiamboi (18-27), vergleicht sie mit anderen antiken Sammlungen und geht auch auf die Frage ein, ob die Epimythien, die sich nicht bei allen überlieferten 144 Fabeln finden, ursprünglich vom Autor verfasst wurden oder eher als Nachtrag anzusehen sind, denn für das Verständnis sind sie meist unwichtig oder widersprechen sogar dem Inhalt der Fabeln (22). S. erinnert daran, dass Forscher wie Ben Edwin Perry, John Vaio, Antonio La Penna und Maria Jagoda Luzzatto wichtige Beiträge im Zusammenhang mit der Textkritik, der Übersetzung und der Klärung weiterer Details geleistet haben (24). Nicht vergessen werden sollte in diesem Zusammenhang die sehr ausführliche und instruktive Einleitung, die Niklas Holzberg seiner zweisprachigen Babriosausgabe vorgeschaltet hat (s.o.). S. möchte mit seiner Studie ein Desiderat beseitigen, denn aktuell fehlt ein Gesamtkommentar zu den Fabeln des Babrios, auch die Poetologie dieser Texte ist noch nicht genau analysiert. Im nächsten Unterabschnitt von Kapitel zwei stellt S. den literarischen Kontext vor (27-36) und klärt zunächst die Frage, warum die Fabeln des Babrios „überhaupt unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten untersucht“ werden sollen (27). Moderne Analysen belegen nach Ansicht von S., dass die Versfabeln in einer beachtlichen Tradition stehen und „literarische Ansprüche erheben“ (27). Auf einige Besonderheiten der Fabeln des Babrios macht er aufmerksam; so beruft sich der Fabeldichter zwar auf die äsopische Fabeldichtung, greift aber auf nichtgriechische Traditionen zurück und bedient sich anderer literarischer Gattungen, so dass komplett neue Fabeln entstehen (28). Auffallend ist der Gebrauch des Choliambus, die Babrios in seinen Fabeln verwendet. Damit steht er in der Tradition der Spottdichtung, etwa in der von Hipponax (6. Jahrhundert v. Chr.) oder auch schon von Archilochos (7. Jahrhundert v. Chr.).

Im dritten Kapitel: Die Sammlung – Aufbau und Struktur (37-50) geht S. auf die Anordnung der Fabeln ein und tendiert dazu, die weitgehend alphabetisch orientierte Grundstruktur als vom Autor intendiert anzunehmen. Vor allem die Annahme, „dass sich das literarische Spiel des Autors mit dem didaktischen und enzyklopädischen Anspruch, den ein antikes Publikum in der Zeit der Zweiten Sophistik an eine Fabelsammlung gestellt haben dürfte, in der Struktur des Fabelbuchs widerspiegelt, würde eine verlockende Erklärung darstellen“ (41). Details zum Gedichtbuch (41-49) bietet S., um anschließend seine Schlussfolgerungen vorzustellen (49-50).

S. entfaltet seine Überlegungen zum poetischen Programm im vierten Kapitel (51-71). Darin geht er zunächst auf den Dichter und sein Publikum (51-56), auf Vorbilder und Nachfolger (56-60), auf die Poetologische Bildsprache (60-69), um dann, auch wie in anderen Abschnitten, seine Beobachtungen zusammenzufassen (70-71). Einige wenige Details aus diesem Kapitel seien kurz genannt, da sie dazu dienen, die im Kommentar präsentierten Analysen besser einordnen zu können. Wenn S. vom Dichter Babrios spricht, dann meint er den „diegetischen Erzähler bzw. das Ich“ (51), das vor allem in den beiden Prologen sichtbar wird. Am Anfang des zweiten Prologs liefert das Ich eine knappe Geschichte der antiken Fabel, Aesop stehe in einer langen Tradition, die auch Vertreter nichtgriechischer Provenienz kennt, ja das Ich führt sogar einen syrischen Fabeldichter an, der zur Zeit des Ninos und des Belos lebte (V. 2/3). Babrios postuliert einen Originalitätsanspruch, denn er habe zwei Gattungen, die Fabel (μῦθος) und den Iambos (ἴαμβος), miteinander verbunden und damit einen neuen Fabeltypus geschaffen, nämlich: die Mythiamben (58). Die Leserinnen und Leser sind bei der Lektüre der Fabeln gefordert, denn sie sollen die darin getroffenen Aussagen ständig evaluieren und „Behauptungen über Intention oder Eigenschaften des Werkes auf ihre Gültigkeit (…) überprüfen“ (60). Die Untersuchungen von S. ergeben, dass Babrios auf sprachliche Bilder zurückgreift, mit denen er Charakteristika seiner Fabeln beschreibt. Ein Bereich, auf den das Ich gerne rekurriert, ist die Sphäre von Flora und Fauna; die Biene spielt schon seit der frühgriechischen Dichtung eine entscheidende Rolle, wenn der poetische Schreibprozess des Dichters illustriert werden soll (Anm. 54, S. 61). Mit einem anderen Motiv wird die Leistung B. s als „zart bzw. fein“ (65) umschrieben. Ein weiterer Bereich der Sprache vermag die Arbeit des Fabeldichters als Handwerker darzustellen. Metaphern aus dem Umfeld der Metallverarbeitung gehen zum Beispiel auf Pindar zurück, der zur Exemplifizierung seines Dichterkönnens den Vergleich mit einem Handwerker nicht scheut, der Metall schleift oder seine Produkte mit Gold veredelt (Pind. O, 6,82 oder auch N. 4, 82-83a) (66). Das fünfte Kapitel steht im Zeichen Literarischer und narrativer Strategien (72-85). Bezüglich der Akteure greift Babrios auf ein großes Spektrum zurück, denn im Gegensatz zu manch populärer Meinung, in Fabeln spielten nur Tiere eine Rolle, findet man in seinem Werk auch Menschen, Figuren aus der Mythologie, Pflanzen und Gegenstände (72). Die Fabeln der Mythiamboi spielen sämtlich in der Goldenen Zeit; hier können alle Protagonisten miteinander in derselben Sprache kommunizieren. Besonders fällt die ausgeprägte Rhetorisierung der Fabeln des Babrios auf (75-76). S. konstatiert eine nicht zu übersehende Erzählfreude des Dichters und eine teilweise detailreiche Beschreibung von Personen oder Situationen (76). Sehr auffällig ist die sogenannte Dekonstruktion, die Forscherinnen und Forscher in den letzten Jahren auch bei anderen Fabeldichtern beobachtet haben. Damit ist das Phänomen gemeint, dass die Erwartungen der Leserinnen und Leser systematisch enttäuscht werden, ja es gibt sogar Widersprüche zwischen den Teilen eines Werkes, in denen der Dichter sein poetisches Programm entfaltet, und den Realisierungen in den Fabeln, die dazu im Widerspruch stehen. Im Fall des Babrios kann festgestellt werden, dass der Dichter in den beiden Prologen Versprechungen macht, die er in den Fabeln nicht einhält. In einer übersichtlichen Tabelle hat S. Auffälligkeiten diesbezüglich dargestellt (80/81). Ein Beispiel mag dies belegen; im ersten Prolog spricht das Ich von einer Harmonie zwischen Menschen und Tieren, gleich in der ersten Fabel benutzt ein Jäger einen Pfeil, um Tiere zu töten.

Das zentrale sechste Kapitel enthält den Kommentarteil zu den beiden Prologen und den ersten 17 Fabeln (86-291). S. erläutert zunächst seine methodischen Überlegungen (86-87), um den Leserinnen und Lesern seine Vorgehensweise transparent zu machen. Die Abschnitte sind gut strukturiert und nach denselben Merkmalen aufgebaut; erst wird der griechische Text geboten, wobei neben den Versen Hinweise auf die benutzten Ausgaben geliefert werden. Dann folgt eine eigene Übersetzung des Autors, wobei er nicht auf die jüngst erschienene Übersetzung von Niklas Holzberg (s.o.) zurückgreift, sondern den Fokus auf einen bestimmten Aspekt richtet, nämlich darauf, „die ursprüngliche Textgestaltung möglichst genau wiederzugeben, weshalb auf stilistische Anpassungen und Abweichungen vom Ursprungstext großteils verzichtet wurde“ (86). Daran schließen sich jeweils ein Abschnitt über die Gliederung der Fabel, der Kommentarteil/Analyse, Hinweise auf Parallelen und eine Gesamtbetrachtung an.

Besonders problematisch ist die Interpretation des ersten Prologs, vor allem, weil es stark voneinander abweichende Überlieferungen gibt (95). Zahlreiche Forscherinnen und Forscher haben sich mit diesem Text intensiv auseinandergesetzt, auf deren Ergebnisse S. zurückgreifen konnte. Sehr lesenswert und kenntnisreich ist der Abschnitt: Analyse (94-105). Auf Details kann ich hier aus Platzgründen nicht näher eingehen, empfehle aber nachdrücklich die Lektüre. Aus schulischer Sicht ist der Prolog schon deshalb von großem Interesse, da in ihm der Weltaltermythos geschildert wird. Man kann diese Variante gut mit den bekannten Darstellungen zum Beispiel von Hesiod, Ovid oder auch Kallimachos vergleichen, auf dessen Iamboi Babrios zurückgreifen konnte. S. arbeitet die Parallelen zwischen den beiden Fassungen von Kallimachos und Babrios gut strukturiert heraus (105-107).

Dass eine Interdependenz zwischen dem ersten Prolog und der Fabel Nr.1 existiert präpariert S. nachvollziehbar heraus. Erwartungen, die im Prolog geweckt wurden, werden mehrmals enttäuscht oder sogar ins Gegenteil gewendet. Da im Eingangstext epische Elemente vorhanden sind, könnte der Leser/die Leserin darauf hoffen, dass es in der ersten Fabel um eine wichtige Schlacht geht. Doch der Löwe ergreift die Flucht und begegnet dem Fuchs. Babrios bedient sich bei der Schilderung eindeutig homerischer Wendungen; als Beispiel lässt sich die Verknüpfung von προκαλέομαι (Babr. 1, V. 4) mit dem Verb μάχεσθαι (Babr. 1, V. 5) anführen; in Versen des Homer finden sich dieselben Kombinationen (Hom. Il, 3-432-433; 7,39-40, Anm. 226, S. 126). Während in anderen antiken Texten der Löwe „Tapferkeit, Stärke und Mut“ symbolisiert (126) und von den Dichtern gerne in epischen Vergleichen eingesetzt wird, enttäuscht bei Babrios der Löwe die Leserinnen und Leser und flieht. Eine andere Täuschung besteht darin, dass die Beschreibung des Goldenen Zeitalters die Erwartung evoziert, in den folgenden Fabeln herrsche eine ähnliche Situation vor. Bereits in der ersten Fabel wird dieses Wunschdenken konterkariert, denn es herrscht Gewalt zwischen Mensch und Tier, ja sogar unter den Tieren. Auf weitere Widersprüche, die S. beobachtet, gehe ich hier nicht ein (vgl. S. 134). Vergleichend arbeitet S. auch bei der Analyse und Interpretation der anderen Fabeln, wobei er immer wieder auf Querverbindungen aufmerksam macht. Zahlreiche Fabeln weisen gemeinsame Elemente und Vor- bzw. Rückverweise auf, so dass die Annahme berechtigt erscheint, dass die vorliegende Sammlung so auch vom Autor intendiert war.

S. erhebt keinen Anspruch darauf, seine Resultate uneingeschränkt auf die anderen Fabeln zu übertragen, sondern empfiehlt weitere Studien, die das Gesamtwerk des Babrios in den Blick nehmen könnten.

Das achte Kapitel beinhaltet Verzeichnisse (294-310) mit Abkürzungen, Hinweise auf Textausgaben, Kommentare und Übersetzungen der Mythiamboi sowie Textausgaben antiker Autoren und Werke, ein Tabellenverzeichnis und die Sekundärliteratur. Den Abschluss bildet das Register (311-335) mit dem Stellenregister und dem Personen-, Orts- und Sachregister.

Abschließend lässt sich konstatieren, dass S. eine vorzügliche Studie zum Werk des Fabeldichters Babrios vorgelegt hat, denn er bringt den wissenschaftlichen Diskurs voran, offeriert den griechischen Text samt eigener Übersetzung, legt gut nachvollziehbare Interpretationen vor, geht auf zentrale Fragen der Babriosforschung ein und erarbeitet neue Einsichten bezüglich der Struktur der Fabeln, ihrer literarischen Architektur und Poetologie. Mit seinem Opus hat S. eine solide Basis für eine moderne literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung der Mythiamboi geschaffen.

Rezensent: Dietmar Schmitz