Da Latein die Basissprache Europas ist, beschäftigt sich der Lateinunterricht auf der Grundlage lateinischer Texte nicht nur intensiv mit der Sprache und Kultur des antiken Rom, sondern nimmt zugleich das Fortleben der lateinischen Sprache bis in die Neuzeit in den Blick. Dabei erweist sich der Lateinunterricht als Schlüsselfach zur europäischen Tradition. Auf dieser Grundlage vermittelt der Lateinunterricht als pädagogisches Mehrzweckinstrument vielfältige sprachliche, methodische, kulturelle und personale Kompetenzen und stellt ein für unsere Gegenwart wichtiges Orientierungswissen zur Verfügung. Dabei werden vor allem langfristig wirksame Qualifikationen erworben, wodurch Allgemeinbildung und Studierfähigkeit nachhaltig gefördert werden. Da in unserem Zeitalter der Dritten Industriellen Revolution spezialisiertes Fachwissen in immer kürzeren Abständen zu veralten droht, kommt derartigen Qualifikationen eine besondere Bedeutung zu.

  1. Das Lateinische leistet als Reflexionssprache einen spezifischen Beitrag zur Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten. Beim Übersetzen von lateinischen Texten verbessern die Schülerinnen und Schüler die Ausdrucksfähigkeit in der deutschen Sprache und schulen nachhaltig ihre Lesekompetenz, indem sie lernen, genau hinzusehen, geeignete Wörter und Ausdrücke zu suchen, sie kritisch zu prüfen, auszuwählen und kreativ anzuwenden. Gerade diese Fähigkeiten sind in der modernen Informationsgesellschaft von besonderer Bedeutung. Dabei sind Sprach- und Inhaltsbetrachtung von Anfang an eng miteinander verzahnt. Insgesamt setzt der Lateinunterricht einen deutlichen Schwerpunkt auf ein methodisch abgesichertes Vorgehen, auf Vertiefung und Nachhaltigkeit bei der Informationsaufnahme und –vermittlung. Allerdings sollen die im Unterricht behandelten sprachlichen Erscheinungen nicht nur als Mittel zur Übersetzung zur Verfügung stehen, sondern werden selber Gegenstand intensiver Sprachbetrachtung. Die Schüler erhalten am Lateinischen als „Modell von Sprache“ ein grundsätzliches Bewusstsein dafür, wie eine Sprache funktioniert. Diese Form der intensiven Sprachreflexion stellt eine wichtige Ergänzung des modernen Fremdsprachenunterrichts dar, dessen Hauptziel die Kommunikationsfähigkeit in der jeweiligen Fremdsprache ist.
    Da die meisten europäischen Sprachen einen hohen Anteil an lateinischen Ursprüngen aufweisen, bietet der Lateinunterricht eine gute Basis, bereits vorhandene fremdsprachliche Fähigkeiten zu vertiefen oder weitere Fremdsprachen zu erlernen. Dies gilt für das Englische, die romanischen Sprachen und auch für das Russische. Ebenso weist der Fremdwortschatz aller wichtigen europäischen Verkehrssprachen einen großen Anteil an lateinischem Wortmaterial auf, zu dem die Schüler im Lateinunterricht einen direkten Zugang erhalten. Insgesamt kann der Lateinunterricht zum Abbau von sozial bedingten Sprachbarrieren beitragen und die Chancengleichheit deutscher und vor allem auch ausländischer Schüler fördern.
  2. Der Lateinunterricht erschließt den Schülerinnen und Schülern einen fundierten Zugang zur europäischen Kulturtradition, stärkt das historische Bewusstsein und leistet einen wichtigen Beitrag zur Förderung einer gemeinsamen europäischen Identität. Im Lateinuntericht kann man erkennen, woher wir Europäer kommen und was uns bis heute verbindet. Der Lateinuntericht ist daher ein bedeutendes europäisches Grundlagenfach. Dies lässt sich an folgenden Bereichen zeigen:
    • Literatur und Mythos
      Der Lateinunterricht führt in grundlegende Formen europäischer Literatur aus Antike, Mittelalter und Neuzeit (z. B. Biographie, Briefliteratur, Epigrammatik, Epos, Fabeldichtung, Geschichtsschreibung, Komödie, Lyrik, Rhetorik und Satire) und in mythologische Grundmuster Europas ein (z. B. Europa, Ikarus, Orpheus und Eurydike, Pygmalion). Dabei wird den Schülern die Bedeutung der griechisch-römischen Antike und der lateinischen Literatur für die Entwicklung der europäischen Kultur verdeutlicht.
    • Geschichte und Politik
      Im Lateinunterricht lernen die Schüler die Grundlagen der römischen Gesellschaft kennen und erhalten einen Einblick in die historischen Fundamente Europas. Dabei werden die Schüler mit Grundproblemen aus Politik und Gesellschaft konfrontiert. Hierzu zählen z. B. das Problem von Macht und Recht (Caesar, Phaedrus), die Idee der Gleichheit und Würde aller Menschen (Cicero, Seneca), die Frage eines gerechten Krieges (Cicero, Augustinus), die Begegnung mit Fremden (Caesar, Plinius, Erasmus, Amerigo Vespucci) oder gesellschaftliche Utopien (Cicero, Thomas Morus).
    • Philosophie
      Der Lateinunterricht führt die Schüler in wichtige Bereiche abendländischer Philosophie (z. B. platonische Philosophie, Stoa, Epikureismus, Augustinus, Hobbes, Descartes) ein und schafft vielfältige Gelegenheiten, über die Grundprobleme menschlicher Existenz nachzudenken und zu diskutieren. (z. B. Was macht menschliches Glück aus? Was bedeutet Freunschaft? Welche Rolle spielen Vernunft und Gefühl im menschlichen Leben?)
    • Religion
      Der Lateinunterricht bietet einen Einblick in die Grundlagen christlicher Religion und vermittelt einen historisch fundierten Einblick in die Bedeutung des Christentums für die europäische Kultur. (Vulgata und die Ursprünge des Christentums, Humanismus als Verbindung von Antike und Christentum)
    • Materielle Kultur
      Im Lateinunterricht werden die Schüler mit wichtigen Grundlagen der bildenden Kunst und der Architektur bekannt gemacht. (z. B. Theater, Villa, Tempel- und Städtebau). Der Fortwirkung dieser Ausdrucksformen wird ebenfalls besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
  3. Schule hat nicht nur die Aufgabe, den Schülerinnen und Schülern fundiertes Sachwissen zu vermitteln, sondern soll vor allem die persönliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen unterstützen und fördern. Hierzu zählen z. B. die Entwicklung von Werthaltungen, die Förderung von Verantwortungbewusstsein für sich selbst und andere und die Fähigkeit zur Selbstkritik und die Entwicklung von Selbstbewusstsein. Zu diesen zentralen Aufgaben der Schule kann der Lateinunterricht wertvolle Beiträge leisten: In den im Unterricht behandelten lateinischen Texten aus Antike, Mittelalter und Neuzeit werden immer wieder grundlegende Fragen menschlicher Existenz aufgeworfen.

    Der Philosoph Seneca fordert in seiner Schrift „Von der Kürze des Lebens“ seine Leser dazu auf , mit dem eigenen Leben bewusst umzugehen: „Die meisten Menschen klagen über die Bosheit der Natur; unsere Lebenszeit, heißt es, sei uns zu kurz bemessen, zu rasch, zu reißend verfliege die uns vergönnte Spanne der Zeit .... . Nein, nicht gering ist die Zeit, die uns zu Gebote steht; wir lassen nur viel davon verloren gehen. Das Leben, das uns gegeben ist, ist lang genug und völlig ausreichend zur Vollführung auch der herrlichsten Taten, wenn es nur vom Anfang bis zum Ende gut verwendet würde. .... So ist es: nicht das Leben, das wir empfangen, ist zu kurz, nein, wir machen es dazu; wir sind nicht zu kurz gekommen; wir sind vielmehr zu verschwenderisch.

    Durch die Beschäftigung mit diesen zeitlich weit zurückliegenden Texten wird den Kindern und Jugendlichen ermöglicht, in Relativierung des eigenen Standpunkts distanzierter, neutraler und differenzierter auf die eigene Position zurückzublicken, ggf. den eigenen Standpunkt in Frage zu stellen und sogar mögliche Alternativen für das eigene Leben und Denken zu erörtern. Der Vorzug dieses Verfahrens zeigt sich am besten, wenn Inhalte behandelt werden, die Gefühle ansprechen, also z. B. Fragen der privaten Lebensführung oder moralische Fragestellungen im öffentlichen und privaten Bereich. Die lateinischen Texte bieten als Denkmodelle die Möglichkeit zur exemplarischen Darstellung und Erörterung von Problemen. In diesem Zusammenhang verfügt der Lateinunterricht im Sinne eines Integrationsfachs über vielfältige Wege, fächerübergreifend oder projektorientiert zu arbeiten. Es bieten sich zahlreiche Möglichkeiten, mit anderen Fächern zusammenzuarbeiten, so z. B. mit den Sprachen (z. B. Aufführung einer Komödie, Entwicklung literarischer Genres in der europäischen Tradition, Fortleben des lateinischen Wortschatzes in den modernen Sprachen), mit den Fächern Geschichte, gesellschaftskundliche Fächern (z. B. Entwicklung des europäischen Rechtssystems) und auch den künstlerischen Fächern (z. B. Rezeption antiker Stoffe und Motive in Musik und bildender Kunst).